Frauen ans Messer

Hintergrund
Ausgabe
2023/0102
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21368
Schweiz Ärzteztg. 2023;103(0102):10-13

Publiziert am 11.01.2023

Chirurginnen Noch immer ist die Chirurgie eine Männerdomäne. Dabei sind heute viele Hürden von einst Geschichte. Das sollte allerdings Frauen wie Männern noch bewusster werden.
Keine Frage: Chirurginnen und Chirurgen haben einen Knochenjob. Viele Operationen dauern lange und sie durchzuführen ist körperlich anstrengend. Neben medizinischem Wissen braucht es handwerkliches Geschick, schliesslich wird etwa geschnitten, gebohrt, gesägt, verätzt, vernäht. «Dafür braucht man als Chirurgin oder Chirurg schon eine kleine Portion Brutalität», sagt Bettina von Seefried. Sie ist Fachärztin für operative Gynäkologie und Geburtshilfe, leitet ein eigenes Zentrum namens Gynhealth und ist Vizepräsidentin von Medical Women Switzerland (mws). Eines der Themen, die sie beschäftigen, ist die überschaubare Anzahl der Frauen in der Chirurgie.
Female doctor Surgeon putting on surgical gloves
Ärztinnen: Im Operationssaal sind sie noch immer untervertreten.
© Alessandroguerriero / Dreamstime
Tatsächlich ist die Dominanz der Männer auch heute noch auffällig: Gemäss den FMH-Zahlen von 2021 liegt der Frauenanteil über alle chirurgischen Fachgebiete und Schwerpunkte hinweg bei 27 Prozent [1]. Zwar gibt es in manchen Gebieten mehr Frauen, etwa in der plastischen Chirurgie oder Kinderchirurgie. Doch in anderen Fächern ist die Dominanz der Männer schlicht erdrückend. Orthopädische Chirurgie: 11 Prozent Frauen; Thoraxchirurgie: 9 Prozent; Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie: 8 Prozent.
Dagegen ist das Verhältnis über die gesamte Medizin hinweg ausgeglichener: 45 Prozent der Ärztinnen und Ärzte sind Frauen. Soweit die Zahlen. Nur: Warum wählen immer noch derart wenige Frauen die Chirurgie? Und: Ist das überhaupt ein Problem oder gilt es, diese Situation einfach zu akzeptieren?

Mythen rund um die Chirurgie

«Einen Grund, der im Fach selbst liegt oder gar an fehlenden Fähigkeiten von Frauen, gibt es nicht», stellt von Seefried klar. «Frauen bringen alle nötigen Eigenschaften mit, mindestens ebenso sehr wie Männer.» Sie beobachtet allerdings, dass angehende Medizinerinnen sich manchmal aufgrund von falschen Vorstellungen gegen die Chirurgie entscheiden.
Mythos Nummer eins: Die Chirurgie lässt sich nicht mit einem Kinderwunsch vereinbaren – zu lange dauere die Ausbildung, zu unplanbar seien die Einsätze. Tatsächlich ist die Chirurgie notorisch unkalkulierbar, schliesslich halten sich Notfälle und Komplikationen an keinen Zeitplan. Doch in den vergangenen 15 Jahren hat sich einiges getan. An den Spitälern federt heute ein Dienstarzt-System die zeitliche Unplanbarkeit ab. «Früher war klar: Wenn eine Chirurgin am Freitag eine Patientin operierte, dann war sie auch Samstag und Sonntag für die Nachbetreuung im Spital», sagt von Seefried, die selbst drei Kinder hat. Im Dienstarzt-System kann dies ein Kollege oder eine Kollegin übernehmen. So haben selbst Chirurginnen und Chirurgen garantierte Frei- und Familienzeit.

Die Frau in der Gesellschaft

Allerdings gilt das weniger für niedergelassene Ärztinnen wie von Seefried, die nach wie vor allein für ihre Patientinnen verantwortlich sind. Das ist in der Familie spürbar: «Manchmal muss ich wegen eines Notfalls vom Esstisch weg, einmal auch von einem Kindergeburtstag.» Dafür brauche es Unterstützung vom Partner, sagt die Chirurgin.
Doch gerade hier liegt das eigentliche Problem: Die Rollen in der Familie sind nach wie vor einseitig verteilt, Frauen übernehmen meist den Löwenanteil der Familienarbeit. Und so ist schon das Einberechnen der späteren Familienplanung in eine berufliche Entscheidung – wie eben für oder gegen die Chirurgie – einseitig verteilt. «Mit der Chirurgie selbst hat das nichts zu tun, sondern damit, dass auch hier die in der Gesellschaft vorherrschende Rollenprägung wirkt», betont von Seefried. Nur: Für sie ist diese klare Rollenverteilung keinesfalls zwingend. Sie beobachtet, dass heute auch Männer in der Chirurgie vermehrt eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie und eine ausgeglichenere Work-Life-Balance einfordern.
So hat inzwischen auch Mythos Nummer zwei vielerorts ausgedient: das Bild vom harten Chirurgen, der das Spital kaum verlässt und auch während Marathon-Operationen nie trinkt oder aufs WC geht. In vielen Kliniken haben sich die Kulturen geändert. Entscheidend sei die Unterstützung im Team, sagt Vanessa Banz, Leitende Ärztin Viszerale und Transplantationschirurgie und Leiterin des Lebertransplantationsprogramms am Inselspital Bern. Bei ihr im Team haben manche Kinder, manche nicht, Männer wie Frauen. Hier kennen die Chirurginnen und Chirurgen die persönliche Situation der anderen und helfen sich gegenseitig aus, erzählt Banz. «Wenn jemand mal früher gehen muss, um die Kinder in der Kita abzuholen, ist das kein Problem, und zwar, ohne dass einem dies als fehlende Motivation ausgelegt wird.» Sondern einfach, weil das zum Leben dazugehört. Auch Vanessa Banz hat drei Kinder.

Weibliche Vorbilder

Als Leitende Ärztin ist sie ein Vorbild und prägt diese flexible, offene Kultur im Team mit. Dass angehende Ärztinnen während der Ausbildung auf solche Vorbilder treffen, sei extrem wichtig, sagt Bettina von Seefried. Sie hatte während ihrer Assistenzzeit selbst eine Professorin als Chefin, das fand sie toll. Auch Vanessa Banz hatte ein gutes Vorbild, allerdings einen Mann. «Mein Chef hat mir die Freude am Fach vermittelt und mich bestärkt und gefördert», sagt sie heute. Diese Förderung brauche es.

Frauen im Fokus

Längst studieren mehr Frauen als Männer Medizin. Höchste Zeit also, den Blick auf Ärztinnen zu lenken. In einer der folgenden Ausgaben werden wir ergänzend zu diesem Beitrag ein Interview mit Daniela Zeller-Simmerl, Vorstandsmitglied der medical women switzerland, veröffentlichen.
Wie auch am Kantonsspital Graubünden unter Rebecca Kraus. Sie ist stellvertretende Chefärztin und ad interim Leiterin der Viszeralchirurgie. In ihrem Team liegt der Frauenanteil deutlich höher als im schweizerischen Durchschnitt, auf Assistenzarztstufe sind mehr als die Hälfte Frauen. Zufall? Woran das liegt, sei schwierig zu sagen, sagt Kraus. Gut möglich, dass sie als Chefin eher Frauen anzieht, als männliche Kollegen dies tun. Zudem lässt sie ihren Teammitgliedern viel Freiraum. «Ich habe kein Problem damit, junge Ärztinnen und Ärzte neben mir gross werden zu lassen, im Gegenteil: Das ist mein Ziel.»
In ihrem Team können sich assistierende Chirurginnen und Chirurgen bei Bedarf im Operationssaal ablösen. Davon machen Männer wie Frauen, Assistenzärzte wie Oberärztinnen Gebrauch. «Bei langen Operationen mache ich selbst alle drei bis vier Stunden Pause», sagt Kraus. Zwar seien die Operierten dadurch ein paar Minuten länger in Narkose. «Aber wenn ich mir erlaube, kurz aufs WC zu gehen und etwas zu trinken, bleibe ich fitter, und das ist für meine Patientinnen und Patienten wichtiger.»

Teilzeit – aber richtig

In Kraus’ Team arbeiten zudem einige Oberärztinnen und Oberärzte in Teilzeit, meist 80 Prozent. Damit sind wir bei Mythos Nummer drei: Chirurgie geht nicht in Teilzeit. Tatsächlich ist das gerade während der intensiven Assistenzzeit deutlich schwieriger als später – aber auch da schon möglich. «Teilzeitarbeit hat überhaupt nichts damit zu tun, ob jemand ein guter Chirurg oder eine gute Chirurgin ist», stellt Kraus klar.
Nur: Nach wie vor arbeiten in der Chirurgie deutlich mehr Frauen als Männer Teilzeit: Gemäss den Statistiken der FMH, die für diesen Artikel zur Verfügung gestellt wurden, absolvieren Chirurgen ein durchschnittliches Pensum von 9.7 Halbtagen pro Woche, Chirurginnen 8.6 Halbtage. Das hat wohl auch damit zu tun, dass reduziertes Arbeiten nicht überall gleich verstanden wird. In manchen Teams werde einem dies als fehlendes Engagement ausgelegt, sagt Bettina Wölnerhanssen. Sie ist inzwischen in der klinischen Forschung tätig, war aber bis 2010 Chirurgin, unter anderem am Universitätsspital Basel, und hielt mehrmals Vorträge zur Förderung von Frauen in der Chirurgie. «Wichtig ist, dass reduziert Arbeitende nicht abgestraft werden und etwa durch unsorgfältige Diensteinteilungen zu weniger Operationen kommen, als ihnen zustehen», sagt Wölnerhanssen. Und dass Teilzeitarbeit so gehandhabt wird, dass sie überhaupt praktikabel ist. So sollten etwa die freien Tage rechtzeitig klar sein, bevorzugt am immer gleichen Wochentag, damit das Zusammenspiel mit Horten und Kitas reibungslos funktioniert – das ist nicht überall selbstverständlich. Wölnerhanssen selbst musste sich, als sie mit ihrem ersten Kind schwanger war, von ihrem Chef anhören: «Ach, dann ist dir die Chirurgie nicht so wichtig.»
Auch Vanessa Banz räumt ein, dass sich Frau in der Chirurgie früher mancherorts in einem sexistischen Umfeld befand. Doch dies habe sich geändert. Zwar müssten Frauen in der Chirurgie durchaus einiges aushalten, zumindest früh in der Karriere, bis sie sich ein unterstützendes Netzwerk aufgebaut haben, resümiert Banz. Das gelte aber ebenso für Männer. «Dranbleiben lohnt sich: Die Chirurgie ist ein tolles und sehr erfüllendes Fach.»

Bessere Behandlungsergebnisse

Lohnen würden sich mehr Frauen im Operationssaal auch für unser Gesundheitssystem. Denn Studien [2] haben gezeigt: Chirurginnen erzielen bessere Behandlungsergebnisse als Chirurgen. Besonders ausgeprägt ist dieser Effekt für Patientinnen: Werden sie von einem Mann operiert, haben sie ein bis zu 15 Prozent höheres Risiko [3] für Komplikationen. Ein entscheidender Faktor sei hierbei, dass Frauen meist eine bessere Beziehung zu den Patientinnen und Patienten aufbauen, sagt Brida von Castelberg, ehemalige Chefärztin der Frauenklinik des Zürcher Stadtspitals Triemli: «Patientinnen und Patienten müssen sich ernst genommen fühlen, damit sie vertrauensvoll kommunizieren, und man muss ihre psychischen und sozialen Umstände kennen, um sie medizinisch richtig zu betreuen.» Wenn etwa ein Chirurg eine Frau am Knie operiert, muss er wissen, ob daheim fünf Treppen auf sie warten, ob sie gleich wieder für andere sorgen muss und wie viel Hilfe sie bekommt. «Lange galt in der Medizin: Fürs Caring sind Frauen zuständig, fürs Curing die Männer», sagt von Castelberg. «Es wäre wünschenswert, diese beiden Dinge besser zusammenzubringen.»
Was zudem für mehr Frauen in der Chirurgie spricht: Im Medizinstudium stellen sie längst die Mehrheit, 2021/22 mit 61 Prozent [4], Tendenz steigend. Wenn also viele Ärztinnen nachkommen, davon aber nur wenige die Chirurgie wählen, wird das für das Gesundheitssystem über kurz oder lang zum Problem.
Ein nochmals anderes Kapitel ist der kaum existente Frauenanteil in leitenden Positionen: 15 Prozent der leitenden Ärzte beziehungsweise Ärztinnen in der Chirurgie sind Frauen, auf Chefarztstufe sind es verschwindende vier Prozent. Was das angeht, steht die restliche Medizin übrigens ähnlich schlecht da wie die Chirurgie. Hier könnten mehr Job-Sharing-Modelle Kaderstellen für Frauen attraktiver machen, sagt Bettina von Seefried. Ein Teil liege aber bei den Frauen selbst. «Ich finde es schade, dass nicht mehr Chirurginnen die Ambition haben, zu sagen: Ich leiste viel und will entsprechend auf die nächste Stufe hochkommen.» Frauen müssten auch den Willen haben, etwas zu ändern und nicht automatisch Männern den Vortritt leisten, lautet ihr Aufruf.
Was es also braucht: Leidenschaft und Durchhaltewillen der angehenden Chirurginnen und ein vollständiges Aussterben der männlich geprägten Chirurgie-versus-Mutterschaft-Kultur. Doch dafür gilt es für beide Seiten eine letzte Hürde zu überspringen – die in ihrem Kopf.

Fräulein Doktor: Das Leben als Chirurgin in den 1950er-Jahren

Als Marie Lüscher 1939 anfängt zu operieren, ist die Chirurgie in der Schweiz noch komplett von Männern beherrscht. Der Weg bis dahin ist entsprechend steinig. All ihre – notabene männlichen – Vorgesetzten reden der Ärztin den Karrierewunsch aus. Frau im Operationssaal, das ist damals komplett unvorstellbar. Erst als während des Zweiten Weltkriegs die Ärzte in den Aktivdienst eingezogen werden, gelingt ihr der Einstieg als Assistenzärztin in der Chirurgie. Nun erzählt ein Buch die Geschichte der Frau, die ihren Wunsch trotz unaufhörlichem Gegenwind nie aufgab – von ihrer bohemehaften Jugend über ihre Frauenbeziehungen bis zu ihrem Aufstieg zur damals einzigen Chefchirurgin der Schweiz.
Denise Schmid
«Fräulein Doktor. Das Leben der Chirurgin Marie Lüscher»
Verlag: Hier und Jetzt
ISBN 978-3-03919-564-0, 39.– Franken
1 Zahlen aus: fmh.ch/themen/aerztestatistik/fmh-aerztestatistik.cfm#i154242https://fmh.ch/files/pdf26/fmh-aerztestatistik-5.-aerzteschaft-nach-hauptfachgebiet-und-geschlecht.pdf und fmh.ch/files/pdf26/fmh-aerztestatistik-8.-aerzteschaft-mit-schwerpunkte-und-ausweise.pdf. In Letzterem Dokument ist der Frauenanteil nicht aufgeführt, auf Anfrage hat die FMH die Daten der Journalistin zur Verfügung gestellt.
2 jamanetwork.com/journals/jamasurgery/article-abstract/2786671 und www.bmj.com/content/359/bmj.j4366
3 jamanetwork.com/journals/jama/article-abstract/2788543
4 www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bildung-wissenschaft/personen-ausbildung/tertiaerstufe-hochschulen/universitaere.assetdetail.21785467.html