Die mutigste Stimme der Türkei

Die mutigste Stimme der Türkei

Forum
Ausgabe
2023/13
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21467
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(13):19

Publiziert am 29.03.2023

AuslandEin medialer Aufschrei ging durch die Welt, als die türkische Rechtsmedizinerin Şebnem Korur Fincancı festgenommen wurde. Ende 2022 wurde sie vom Erdogan-Regime wegen Propaganda für eine Terrororganisation verurteilt. Und kürzlich half sie den Erdbebenopfern in ihrem Land. Ein Blick auf ihr Leben.
Die renommierte Menschenrechtsverteidigerin, international bekannte und geschätzte Forensikerin und Vorsitzende des türkischen Ärzteverbandes (TTB), Professor Dr. Şebnem Korur Fincancı wurde am 26.10.2022 in Istanbul festgenommen. Die Staatsanwaltschaft warf ihr «Propaganda für eine Terrororganisation» vor und forderte eine Freiheitsstrafe von 7 Jahren und 6 Monaten. Im Oktober hatte Fincancı sich in einem Fernsehinterview dafür ausgesprochen, Vorwürfe bezüglich eines angeblichen Einsatzes von Giftgas durch die türkische Armee im kurdischen Nord-Irak international und unabhängig untersuchen zu lassen.
Vor dem Justizpalast in Istanbul kam es während des Prozesses zu Demonstrationen.
© Tolgaildun | Dreamstime.com

Oppositionelle Ärztin

Fincancı ist seit Jahren eine bekannte Menschenrechtsaktivistin und Mitverfasserin des Istanbul Protokolls (Internationales Protokoll zum Nachweis von Folter). Als forensische Expertin international begangener Menschenrechtsverletzungen hat sie auch jene in ihrem Heimatland aufgedeckt. Nach Einschätzung von Luise Amtsberg, der Menschenrechtsbeauftragten der deutschen Bundesregierung ist Fincancı «eine der mutigsten Stimmen der Türkei».
Die Anklage Fincancıs hat direkt mit ihrem Amt zu tun: Die türkischen Berufsverbände, wie zum Beispiel die Ärztekammer gehören zu den letzten oppositionellen Stimmen der Türkei. Sie sind schon länger unter Druck der jetzigen Regierung. Sämtliche elf Mitglieder des Exekutivkomitees der Ärztekammer sind aktuell wegen «Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation» angeklagt.

Grosse Solidaritätswelle

In der Türkei erhob sich sofort eine grosse Solidaritätswelle ungeachtet der Repression. Sie hatte unmittelbar internationalen Schulterschluss zur Folge: Zahlreiche nationale Ärztekammern, die Europäische Ärzteunion, der Weltärztebund, der Lancet und Organisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch äusserten umgehend ihren Protest und forderten die sofortige und bedingungslose Freilassung Fincancıs. Frank Ulrich Montgomery, der deutsche Vorsitzende des Weltärztebundes erklärte, «Fincanci’s Arbeit gehört gepriesen, nicht bestraft».
Ungeachtet dessen blieb unsere Berufskollegin inhaftiert und musste am 29.12.2022 zum zweiten Mal vor Gericht erscheinen. Das Verfahren wurde auf den 11.1.2023 vertagt. An diesem Tag verurteilte sie das Gericht aufgrund von Terrorismuspropaganda zu einer Haftstrafe von 2 Jahren und 8 Monaten. Nach Abzug der Untersuchungshaftdauer wurde die Reststrafe auf Bewährung ausgesetzt und sie kam auf freien Fuss. Ihre Aussage, die sie ins Gefängnis brachte, hat sie nicht zurückgenommen.

Aus dem Gefängnis ins Erdbeben

Am 6.2.2023 ereignete sich die seit einem Jahrhundert stärkste Erdbebenkatastrophe im türkisch-syrischen Grenzgebiet mit bekannterweise verheerenden Folgen. Dr. Fincancı packte die Herausforderung im Kreis ihrer Kolleginnen und Kollegen unverzüglich an. Im Zentrum steht die Organisation der Nothilfe, der Versorgung und der Prophylaxe von Epidemien.
Şebnem Korur Fincancı und all unseren Kolleginnen und Kollegen in der Türkei, die in den letzten Jahren trotz Mehrfachbelastung der massiven Wirtschaftskrise, des staatlichen politischen Drucks, der COVID-19-Pandemie und Personalknappheit durchhielten und nun erneut eine massive Herausforderung stemmen, gehört unsere grosse Solidarität.
Dr. med. Cornelia Rohr
Innere Medizin FMH