«Unsere Flexibilität hat Grenzen»

Hintergrund
Ausgabe
2023/09
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21558
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(09):12-16

Publiziert am 01.03.2023

Grundversorgende Immer mehr Patientinnen und Patienten, aber zu wenig Zeit und Personal: Die Haus- und Kinderärztinnen und -ärzte in der Schweiz schlagen Alarm. Was jetzt passieren muss, um die Lage zu entschärfen, erklärt Pädiaterin Heidi Zinggeler im Gespräch.
Heidi Zinggeler, in den kommenden Jahren wird es einen massiven Mangel in der haus- und kinderärztlichen Versorgung geben. Welche Folgen wird das haben?
Ich kann mir verschiedene Entwicklungen vorstellen. Wünschenswert wäre, dass es mehr Haus- und Kinderärztinnen gibt. Bleibt die Zahl der Grundversorgenden gleich, steht zur Betreuung des einzelnen Patienten weniger Zeit zur Verfügung. Dann müssen wir uns überlegen, welche Aufgaben, die wir Ärztinnen und Ärzte nicht mehr abdecken, von anderen Stellen erbracht werden.
Dr. med. Heidi Zinggeler Fuhrer ist Fachärztin FMH für Kinder- und Jugendmedizin. Zudem ist sie Vize-Präsidentin von mfe Haus- und Kinderärzte Schweiz und dort Co-Verantwortliche der Kommission Tarife. Seit 2002 ist sie Ärztin in einer pädiatrischen Gemeinschaftspraxis in Chur.
© Kevin Wildhaber
Ist eines der Probleme, dass die Leute zu oft in die Praxis kommen?
Könnte die Bevölkerung mehr Gesundheitskompetenz erlangen, wäre sie weniger auf die ärztliche Expertenmeinung angewiesen. Ein Beispiel: Braucht ein verstauchtes Handgelenk gleichentags eine Konsultation oder sogar ein Röntgenbild?
Was sind die Folgen des Ärztemangels für die Grundversorgung?
Viele Erwachsene und Kinder werden gar keinen Grundversorger mehr finden, der sie langfristig betreuen kann. Anonyme Ambulatorien und Notfallstationen können gewisse Aufgaben übernehmen, aber längst nicht alle. Das Wissen über einzelne Patienten, deren Geschichte und Lebensumstände sowie das aufgebaute Vertrauen gehen damit verloren. Das ist mit Mehraufwand verbunden.
Welche Lösung gibt es?
Zur Betreuung der Patienten wird den Ärztinnen und Ärzten weniger Zeit bleiben. Wir haben die Wahl zwischen Aufnahmestopp, Verkürzung der Konsultationszeiten, Nachkontrollen in grösseren Abständen oder Verlängerung unserer Arbeitszeit. Letzteres unter Umständen mit gesundheitlichen Nachteilen für uns selbst. Qualitätseinbussen in der Versorgung wären in jedem Fall die Folge.
Vor welchen Herausforderungen stehen Sie und Ihre Berufskolleginnen und -kollegen?
Die Herausforderung erleben wir jeden Tag: Wenn ich meine Patientenzahl limitiere, nach welchen Kriterien tue ich das? Gewähre ich allen Nachfragenden einen Termin, muss ich zwangsläufig die Konsultationszeit kürzen oder länger arbeiten.
Welchen Rat geben Sie sich selbst und den anderen Grundversorgenden?
Wir müssen unsere Aufgaben überdenken: Welche übernehmen wir Ärztinnen und Ärzte im besten Interesse der Bevölkerung? Welche könnten wir delegieren und an wen? Welche erbringen wir nicht mehr? Wir in den Praxen tätigen Haus- und Kinderärzte können das Problem nicht im Alleingang lösen. Die Telefontriage durch unsere medizinischen Praxisassistentinnen (MPA) spielt dabei im Praxisalltag eine eminent wichtige Rolle. Gerade in der pädiatrischen Praxis ist diese wichtige Ressource keine Selbstverständlichkeit. Zum einen, weil es generell zu wenig MPAs gibt, zum anderen, weil während deren Grundausbildung zu wenig pädiatrisches Wissen vermittelt wird.
Ausserdem ist es essenziell, unseren Patienten und Patientinnen beziehungsweise deren Eltern eigene Gesundheitskompetenz zu vermitteln. Da müssen wir uns auch über das «wie» Gedanken machen. Die Bevölkerung kann dadurch gesünder und von medizinischen Leistungen unabhängiger werden, was Gesundheitskosten spart.
Ist Ihr Berufsfeld unattraktiv für viele angehende Ärztinnen und Ärzte?
Der Beruf des Kinder- und Hausarztes nimmt unter Studierenden und Assistenzärztinnen an Beliebtheit wieder stark zu. Die Grundversorgung ist grundsätzlich durchaus attraktiv, aber die Arbeitsbedingungen werden immer schwieriger. Sie werden von nationalen, kantonalen, regionalen Vorgaben und Umständen bestimmt. Am meisten drückt der Notfalldienst, zu dem wir von Gesetzes wegen verpflichtet sind und der je nach Region und Situation unterschiedlich belastend ist.
Welche Anreize müsste man setzen, um die Arbeit für Studienabgänger attraktiver zu gestalten?
Die Rahmenbedingungen und die Perspektiven spielen eine wichtige Rolle. Gift für junge Leute, die sich mit der Berufswahl auseinandersetzen sind etwa die Kostendiskussion im Gesundheitswesen, Anwürfe gegenüber der Ärzteschaft, ein seit Jahren sinkendes Einkommen, vom Parlament angedrohte Lohnkürzungen, immer mehr Auflagen und Kontrollen, von denen viele in unseren Augen nutzlos sind – und vieles mehr.
Neben dem Mangel an Ärztinnen und Ärzten im Kinder- und Hausarztbereich akzentuiert auch die steigende Patientenzahl in den Praxen die Situation. Können Sie das typische Patientenklientel beschreiben, das den Anstieg ausmacht?
Ein immer grösserer Teil der Bevölkerung ist im Pensionsalter. Mit zunehmendem Alter steigt der Bedarf an medizinischen Leistungen exponentiell an. Das hat Auswirkungen auf Kosten und Auslastung des Gesundheitswesens. Hohes Alter und gute Gesundheit sind fantastisch, haben aber auch ihren Preis, den unsere Gesellschaft bereit ist zu zahlen, wenn sie nicht nur an die eigenen Prämien denkt. Die FMH hat aufgezeigt, dass mehr als 80% der Bevölkerung mindestens ein Mal im Jahr einen Arzt aufsucht, Tendenz steigend. Weniger als jede fünfte Person kann ein Jahr lang auf einen Arztbesuch verzichten. Warum ist das so? Das müssten Sie in erster Linie die Patienten und Patientinnen fragen. Ist die Bevölkerung kränker als früher? Hat sie mehr Angst? Hat sie andere Ansprüche?
Sicher ist, dass ein stetig sich verbesserndes diagnostisches und therapeutisches Angebot zu mehr Aufwand führt und zu mehr Kosten, im besten Fall aber auch zu besserer Gesundheit, erhöhter Produktivität in Gesellschaft und Wirtschaft sowie Einsparungen bei Lohnausfallversicherungen und Renten.
Müssen die Grundversorgenden ihr Arbeitspensum stetig nach oben anpassen, um eine gute Versorgung zu gewährleisten? Sind sie dazu bereit oder verhängen sie eher einen Patientenstopp?
Beides. Wir können unsere Arbeitszeiten kurzfristig nach oben anpassen, saisonale Schwankungen gehören zu unserem Beruf. Aber unserer Flexibilität sind Grenzen gesetzt. Nur wenn wir selber gesund bleiben, können wir unsere Patienten gut betreuen. Zudem brauchen wir für mehr Arbeit auch mehr Personal. Und da herrscht ein ausgeprägter Mangel. Wir können daher nicht alle betreuen, die sich in unseren Praxen melden.
Ratsuchende wollen heute häufig mit ihrem gesundheitlichen Problem an einen Spezialisten überwiesen werden. Wie gelingen eine differenzierte Triage und Einschätzung der Dringlichkeit eines Anliegens unter Zeitdruck?
Triage beginnt schon am Telefon durch die MPA, welche Patienten in unsere Sprechstunde kommen müssen und welche am Telefon durch die MPA beraten werden können. Mit Zeitdruck können wir umgehen. Jede sorgfältige Beurteilung braucht Zeit und die ausführliche Besprechung mit dem Patienten erst recht. Wir versuchen mit den Patientinnen und Patienten zusammen die für sie beste Lösung zu finden. Die Vorstellung, ein noch besserer Experte würde am Schluss eine perfekte Lösung anbieten können, ist ein allgemeiner Trugschluss, in der Medizin erst recht. Die Weiterleitung an Spezialisten erfolgt, wenn notwendig, punktuell, zielgerichtet und zu jenen unseres Vertrauens. Das ist ein wichtiger Faktor für ein effizientes, kostengünstiges und lösungsorientiertes Vorgehen im Interesse der Patientinnen und Patienten.
Nicht nur die Zahl der Patienten pro Praxis nimmt zu, sondern auch die Leistung in Abwesenheit des Patienten. Wie kommt es zu diesem Mehraufwand?
Wir verbringen immer mehr Zeit mit administrativen Arbeiten. Wir müssen melden, Qualität nachweisen, besprechen, Auskunft geben und immer mehr dokumentieren. Ein Teil dieser Arbeit ist nützlich und sinnvoll. Und vielleicht gibt es auch einfach viel mehr zu besprechen? Zum Beispiel die Schwierigkeiten des Schülers, mit dem Druck in der Schule umzugehen. Der Haus- und Kinderarzt ist die Koordinationsstelle zwischen verschiedenen Abklärungs- und Therapiestellen. Koordinationsarbeit ist in einem immer komplizierter werdenden Gesundheitssystem zentral, Haus- und Kinderärztinnen stehen in dieser Verantwortung.
Welche Tätigkeiten sind das konkret?
Wir studieren Akten und arbeiten Wesentliches in die Krankengeschichte ein, zum Beispiel eine neue Medikation. Wir schreiben Überweisungen, stellen Rezepte und Verordnungen, Zeugnisse für Versicherungen, Schulen oder Arbeitgeber aus. Wir führen Gespräche mit Angehörigen, Therapeuten, Lehrern, Vorgesetzten und so weiter.
Hat die Anzahl der Telefongespräche zur Beratung der Patientinnen und Patienten beziehungsweise der Eltern ebenfalls zugenommen?
Ja, deutlich. Ebenso der Mailverkehr, aber auch die Kommunikation über SMS oder Whatsapp. Es ist durchaus sinnvoll, telefonische Beratung anzubieten, wo es möglich ist. Diese ist aber nicht weniger aufwendig und braucht Zeit, genauso wie die Sprechstunde.
Was kann getan werden, um die gewohnt gute medizinische Versorgung trotz der steigenden Zahl an Patientenkontakten zu gewährleisten?
Mehr Ärztinnen, mehr MPAs. Bessere Rahmenbedingungen. Genügend Zeit für die Förderung der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung. Keine tarifarischen Einschränkungen für Behandlungen und Beratungen der Patienten. Nicht noch mehr Auflagen und Vorschriften, die die Praxistätigkeit unnötig erschweren.
Welche Möglichkeiten sehen Sie, um Ärztinnen und Ärzte in Zukunft zu entlasten?
Das elektronische Patientendossier wird vorerst das Gegenteil bewirken. Ich möchte von unsinniger Arbeit verschont werden, beispielsweise möchte ich der Versicherung nicht begründen müssen, warum ich die vom BAG empfohlene Grippeimpfung appliziert habe.
Können andere Berufsgruppen verstärkt in die Grundversorgung eingebunden werden?
Ja, unsere Stützen sind die MPAs. Je nach Erfahrung können ihnen mehr oder weniger Aufgaben delegiert werden. Die Schwierigste ist die Triage am Telefon. Die Pädiatrie kommt in der MPA-Ausbildung kaum vor. Wir Kinderärzte müssen sie dann zunächst in ihre für sie neuen pädiatrischen Aufgaben einführen, bezüglich vieler Krankheitsbildern schulen und unterstützen, bis sie genügend Erfahrung erworben haben. Und die Personalfluktuation ist hoch.
Advanced Practice Nurses (APN) oder auch medizinische Praxiskoordinatorinnen (MPK) können vor allem in strukturierten Programmen, zum Beispiel der Begleitung von Diabetikern oder Asthmatikern eingesetzt werden. Die Grundversorgerpraxis braucht aber vor allem genügend gut ausgebildete MPAs mit Berufserfahrung.
Der Kinder- und Hausarztberuf wird unter Studierenden wieder attraktiver, sagt die Pädiaterin Heidi Zinggeler.
© Kevin Wildhaber
Welche Anreize müsste es geben, damit diese Gesundheitsfachpersonen verstärkt in die Versorgung integriert werden könnten?
Der Berufsverband der Haus- und Kinderärzte engagiert sich sehr in der Interprofessionalität, in der Zusammenarbeit der Ärzteschaft mit MPAs, APN, Apothekern, Physiotherapeutinnen und weiteren Gesundheitsfachpersonen. Die Probleme lassen sich nicht top down lösen, sondern Lösungen entstehen im Kleinen. Wir brauchen Rahmenbedingungen, wie einen sachgerechten Tarif, bei dem Leistungen der MPAs unabhängig von einer ärztlichen Konsultation abgerechnet werden können. Beim TARDOC wurden erste Schritte in die richtige Richtung unternommen.
Lesen Sie auch den Beitrag im FMH-Teil ab Seite 28, in dem die Zahlen und Fakten rund ums Thema Grundversorgende präsentiert werden.