Scheinheilige Götter in Weiss

Wissen
Ausgabe
2023/16
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21606
Schweiz Ärzteztg. 2023;(16):76-77

Publiziert am 19.04.2023

Ärztliche Non-Compliance Sie rauchen, obwohl Sie Ihren Patientinnen und Patienten davon abraten? Sie können nicht aufs Dessert verzichten und treiben zu wenig Sport? Dann befinden Sie sich in guter Gesellschaft. Weshalb folgen Ärztinnen und Ärzte ihren eigenen Ratschlägen nicht?
Der Müesli-Erfinder Max Bircher-Benner (1867–1939) war bekannt für seine strengen Regeln einer gesunden Lebensweise. «Ordnungstherapie» nannte er sie. Dazu gehörte auch die Abstinenz von so genannten «Genussgiften». Alkohol, Kaffee und Tabak waren verpönt. Selber das Rauchen aufzugeben hat Bircher-Benner allerdings nicht geschafft, sogar als seine Gattin ihn inständig darum bat [1].
Samuel Hahnemann (1755–1843), der Begründer der Homöopathie, meinte, dass nur eine genau nach seinen Regeln praktizierte Homöopathie wirksam sein könnte [2]. Aus seinen erhaltenen Krankenjournalen, in denen er jede Verordnung akribisch festhielt, geht aber hervor, dass er sich immer wieder Freiheiten nahm, seinen eigenen Regeln nicht ganz so streng zu folgen [3].
Und noch ein historisches Beispiel: Der ausgebildete Arzt und praktizierende Philosoph Karl Jaspers (1883–1969) entwickelte eine Idee des idealen Patienten. Der solle, hoch reflektierend, «ein sich selbst bewusstes Individuum» sein und «die Grenzen dessen, was er vom Arzt erwarten darf», kennen. Seinen eigenen langjährigen Hausinternisten Albert Frankel (1864–1938) stilisierte er in seiner autobiografischen «Krankheitsgeschichte» allerdings zu einer Art Übermenschen, in den er «grenzenloses Vertrauen» habe [4].

Ein aktueller Widerspruch

Solche Diskrepanzen zwischen der Theorie beziehungsweise den Ansprüchen und dem realen Handeln in der Medizin bekommen schnell den Geschmack von Inkonsequenz, Unehrlichkeit oder gar Scheinheiligkeit: Wasser predigen und Wein trinken. Bei Kritikern lösen sie Häme aus. Deshalb findet man sie kaum in ehrerbietiger historischer Literatur. Helden sollen widerspruchsfrei erscheinen. Und sicherlich liesse sich jede dieser Ungereimtheiten auch irgendwie widerspruchsfrei interpretieren.
Schaut man aber genauer hin, erscheinen solche Diskrepanzen verbreiteter und alltäglicher, als man auf den ersten Blick annimmt. Gerade in der heutigen Medizin.
Unter dem Thema «Ärztegesundheit» wurde in dieser Zeitschrift in den vergangenen Jahren immer wieder beklagt, dass Ärztinnen und Ärzte, und auch das Medizinpersonal allgemein, häufig «nachlässig» mit ihrer eigenen Gesundheit umgingen. Aus unserer Perspektive hiesse dies, dass sie sich gesundheitlich nicht so verhalten, wie es ihren eigenen gesundheitlichen Normvorstellungen entspricht – oder entsprechen sollte. Das kann man als Problem sehen und dagegen arbeiten [5, 6]. Man kann aber auch weiter gehen.
Anhand von solchen Inkongruenzen lässt sich die Medizin besser verstehen. Für das «nachlässige» Gesundheitsverhalten werden oft externe Stressoren verantwortlich gemacht: hohe Leistungsanforderungen im Beruf, emotionale Belastung, Konkurrenzdruck und so weiter. Aber auch ein Verständnis des Arztberufs als ein sich aufopferndes und nie versagendes Heldendasein, das zu Selbstausbeutung führt und im Konflikt mit der Patientenrolle steht [5, 6].

Beigeschmack des Fehlverhaltens

Weitere Beispiele solcher Divergenzen weisen auf andere Hintergründe hin. «Wie würden Sie an meiner Stelle entscheiden?» ist eine Rückfrage, die Ärztinnen und Ärzte immer wieder von Patientinnen und Patienten hören, wenn es um Handlungsalternativen geht. Die Frage hat es in sich. Vordergründig zielt sie vielleicht darauf ab, eine Lehrmeinung in eine konkrete Entscheidung zu übertragen. Hintergründig versteckt sich in ihr aber auch der Verdacht, dass Therapeuten für sich selber vielleicht anders entscheiden würden, als sie es standardmässig ihrer Patientenschaft vorschlagen. In der Tat wurde in Studien immer wieder festgestellt, dass Ärztinnen oder Ärzte für sich selber zum Beispiel weniger oder andere Operationen bevorzugen als für die restliche Patientenschaft. Etwa, weil sie deren Risiken für sich anders einschätzen als für die Patientenschaft [7–9].
Man könnte dies «ärztliche Non-Compliance» nennen. Das wird aber nicht gemacht. Das Phänomen «Non-Compliance» wird in der Medizin praktisch immer auf die Patientenschaft gemünzt. Non-Compliance hat eben oft den Beigeschmack des Fehlverhaltens, des subtilen Vorwurfs – im schlimmsten Fall von Charakterschwäche.
Als Teil des Lebens sind Medizin und Gesundheit nicht widerspruchsfrei.
© Adrian Smith / Unsplash
Ein erweitertes Verständnis von Non-Compliance sieht darin nicht nur individuelles Fehlverhalten, sondern auch den Einfluss äusserer Lebensbedingungen: Wissen, Geld, Zeit und so weiter. Hier setzen Initiativen an, die gegen Non-Compliance, auch die ärztliche, anarbeiten [5].
Ein noch weiterer Begriff von «Non-Compliance» fragt, wie «lebensnah», «lebensfremd» oder «lebensrealistisch» eine geforderte Handlungsweise ist. Denn das Leben als Ganzes ist vielfältiger und komplizierter, es umfasst mehr als Gesundheit und die abstrakte Idee einer formalisierten «Best Practice». Ein Beispiel, angesprochen von einem Leser der Schweizerischen Ärztezeitung: Sollen wir (Ärzte) jenseits der Arbeit auch unsere Erholung «möglichst wirkungsvoll» für unsere Gesundheit «belegen, reservieren, einteilen»? [10] Und allgemein: Wie weit soll unser Leben, auch das von Ärzten, dann lediglich bestimmten Normen gesundheitlicher Effizienz unterworfen werden?
Eine «lebensweltliche Perspektive» nennt man das im Fachchinesisch. Widersprüche sind darin nicht einfach ein Problem, sondern ein Teil des Lebens. Für Allgemeinpraktizierende sind Widersprüche zwischen der abstrakten Idee und der lebensweltlichen Praxis nicht nur gegenüber ihren Patientinnen und Patienten eine alltägliche Erfahrung.
Als Teil des Lebens sind auch Medizin und Gesundheit nicht widerspruchsfrei. Das muss man aushalten können. Ein befreundeter Arzt hat das Dilemma der ärztlichen Non-Compliance vor längerer Zeit an einem feuchtfröhlichen Samstagabend kurzerhand mit dem Satz gelöst: «Der Arzt in mir ist nüchtern.»
1 Wirz A. Die Moral auf dem Teller. Zürich: Chronos; 1993:135.
2 Hahnemann S. Reine Arzneimittellehre. Dritter Theil. Dresden: Arnold ;1817:V,IX. Vielen Dank an Prof. Dr. Robert Jütte für den Hinweis.
3 Siehe hier allgemein die entsprechenden Forschungen im Umfeld des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart.
4 Shoak MA. Jaspers’ Krankheit und die Arzt-Patient-Beziehung. Basel: Schwabe; 2022:9,36-39,100. Shoak selber hebt dort allerdings auf die Kohärenz von Jaspers Theorie und seinem Verhalten ab.
5 Rieser R, Quinto CB, Weil B. Gesunde Ärztinnen und Ärzte für gesunde Patientinnen und Patienten Schweiz Ärzteztg. 2022;103(20):663-668 DOI: https://doi.org/10.4414/saez.2022.20742
6 Lüthi C. FMH-Symposium in Bern: «Gesunde Ärzte – vom Studium bis zur Pension». Kranke Ärztin, kranker Arzt – ein Stigma. Schweiz Ärzteztg. 2016;97(23):852–3.
7 Bartens W. Operationen sind gut – für die anderen. Süddeutsche Zeitung vom 12. April 2011. https://www.sueddeutsche.de/karriere/aerzte-lassen-sich-selten-selbst-behandeln-operationen-sind-gut-fuer-die-anderen-1.1083892. Darin Hinweise auf andere Studien.
8 Garcia-Retamero, R., & Galesic, M. (2012). Doc, what would you do if you were me? On self–other discrepancies in medical decision making. Journal of Experimental Psychology: Applied, 18(1), 38–51. https://doi.org/10.1037/a0026018
9 Nebout, A., Cavillon, M. & Ventelou, B. Comparing GPs’ risk attitudes for their own health and for their patients’ : a troubling discrepancy?. BMC Health Serv Res 18, 283 (2018). https://doi.org/10.1186/s12913-018-3044-7.
10 Schawalder A. Effectively … (Leserbrief). Schweiz. Ärzteztg. 2020;101(40):1266.