«smarter medicine» bedarf «smarter regulation»

Leitartikel
Ausgabe
2023/10
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21634
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(10):30-31

Publiziert am 08.03.2023

Folgenschwere Regulierung Seit 2014 gibt es die Initiative «smarter medicine» und seit 2017 den Trägerverein «smarter medicine – Choosing Wisely Switzerland». Leider werden deren Zielsetzungen sowie zukunftsgerichtete Initiativen durch eine überbordende und praxisferne Regulation torpediert.
In gesundheitspolitischen Diskussionen werden Patientinnen und Patienten oft beschuldigt, immer mehr Leistungen zu verlangen. In der Praxis zeigt sich jedoch ein ganz anderes Bild: Patientinnen und Patienten suchen eine Hausärztin oder einen Hausarzt, der oder die vertrauenswürdig ist und sie langfristig und konstant betreut [1]. Einem Patienten – unter Berücksichtigung seiner individuellen Gesundheitskompetenz – zu erklären, was die Vor- und Nachteile einer spezifischen diagnostischen Untersuchung oder einer Therapie sind, benötigt Zeit. Zu erklären, dass es besser wäre, auf etwas zu verzichten, als es einfach durchzuführen, ist oftmals aufwendig. Zusatznutzen und -aufwand und/oder -risiken stehen in einem solchen Fall in einem schlechten Verhältnis. Genau dies ist ein Kernprozess von «smarter medicine». Durch einen unverständlichen Tarifeingriff des Bundesrats in TARMED wurden Gesprächszeiten mit Patientinnen und Patienten, Angehörigen sowie mit anderen Gesundheits- und Medizinalberufen jedoch limitiert. Die mangelnde Koordination im Gesundheitswesen wird dann aber nicht dem Verursacher, dem Bundesrat, sondern den Gesundheitsberufen vorgeworfen. Entsprechende Dokumente des BAG, die aufzeigen, wie die Koordination zwischen dem ambulanten und stationären Bereich vergütet werden sollte, sind viel zu praxisfern. Der neue Arzttarif TARDOC würde die gröbsten Fehler dieses Tarifeingriffs lindern, wird aber aus ideologischen Gründen prokrastiniert.
Carlos Quinto
Dr. med., Mitglied des FMH-Zentralvorstandes, Departementsverantwortlicher Public Health und Gesundheitsberufe

Antibiotika

In den Deutschschweizer Kantonen mit Selbstdispensation findet sich schweizweit und europaweit die tiefste Abgaberate von Antibiotika. In der Romandie ist die Abgabe um 20% bis 30% höher, wofür es jedoch plausible Hypothesen gibt [2]. Trotzdem will das BAG die Antibiotika-Abgabe im revidierten Epidemiengesetz regulieren, was zu massivem administrativen Mehraufwand, zu mehr Kosten, zu mehr Ineffizienz sowie zu einer weiteren Überlastung der Notfallstationen führen wird. Hausärztinnen und Hausärzte werden schlicht keine Zeit haben, vor der Antibiotikaverschreibung zum Beispiel eine Hotline anzurufen, die womöglich besetzt, weniger qualifiziert ist und sich in ihrer Entscheidungsfindung lediglich auf Algorithmen stützt. Nach der Antibiotikaverschreibung sollen Ärztinnen und Ärzte zusätzlich ein mehrseitiges Formular mit Patientenangaben ausfüllen und alle fünf Jahre eine mehrstündige separat auszuweisende Fortbildung absolvieren, obwohl die Thematik – da wichtig – bereits heute regelmässig an Kongressen angeboten wird. Von Seiten BAG wird oft eine Basler Studie [3] zitiert, deren Autoren bereits in der Originalpublikation auf zahlreiche Limitationen hingewiesen haben, die vom BAG und den Alltagsmedien weggelassen oder bestenfalls überlesen werden.
Es braucht Zeit, Patientinnen und Patienten zu erklären, dass weniger Medikamente, Untersuchungen oder Therapien sinnvoll sein können.
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Essenziell für das Verschreiben von weniger Antibiotika ist der Point of Care. Das Point-of-Care-Praxislabor ist mit ein Grund, weshalb die Schweiz im internationalen Vergleich so gut dasteht. Es ist ein essenzieller Faktor, um zwischen viralen und bakteriellen Infekten unterscheiden zu können. Dies zeigte auch eine Nationalfondsstudie aus Lausanne [4]. Dank der nicht nachvollziehbaren BAG-Regulationen im Laborbereich wird der Fortschritt der Strategie Antibiotikaresistenzen, kurz StAR, jedoch ausgebremst. Das Thema «Antibiotikaresistenz» gehört nicht ins Epidemiengesetz. Das Einzige, was darin festgehalten werden kann, zur Thematik «antimicrobial resistance», ist die nachhaltige Finanzierung von ANRESIS. Das Schweizerische Zentrum für Antibiotikaresistenzen leistet gute Arbeit und seine Software App «infect info» ist praxistauglich. Dank weiterer Regulationen können – zumindest momentan – leider keine Antibiotikateilmengen abgegeben werden. Die Antibiotikaforschung ist wegen fehlender Anreize schwierig. Es gibt nur noch eine Fabrik, die Antibiotika in Europa produziert. Es ist eine Frage der Zeit, bis wir in den Hammer laufen. Denn es gibt Bakterien, die früher oder später gegen jedes Antibiotikum resistent sein werden. Das liegt in deren Natur.
Folglich sind wir darauf angewiesen, neue Antibiotika zu entwickeln. Spitalapotheken stellen auf dem Markt fehlende Antibiotika in galenischen Formen für Kinder her und müssen sich zum Dank mit den Krankenversicherern herumschlagen, da diese die Kosten hierfür nicht übernehmen wollen. Aktuell ist das Problem, dass in der Schweiz insbesondere für Kinder Antibiotika fehlen, akuter als das der Antibiotikaresistenz. Dies müsste das BAG bei seinen geplanten Regulationen berücksichtigen, insbesondere bei Verordnungen, welche die jetzt schon problematische Medikamentenversorgung weiter verschlechtern werden. Andernfalls werden wir viele chronisch kranke Patientinnen und Patienten nur noch mit Medikamenten versorgen können, wenn wir sie aus den Nachbarländern importieren. Der für diese aufwendigen Bestellungen zusätzlich anfallende Personal- und Kostenaufwand wird ebenfalls nicht vergütet.

Health Workforce

Uns blüht ein gravierender Mangel an Gesundheitsfachkräften. Konstruktive Ansätze zur Lösung finden sich in TARDOC, der nun schon über drei Jahre durch den Bundesrat prokrastiniert wird. Wie an der Jubiläumstagung des Obsan präsentiert, schneiden sich die Kurven zwischen Health Care Need (aufsteigend) und der noch vorhandenen Health Care Workforce (absteigend) im Jahr 2025. Drei wertvolle Jahre wurden verschwendet. Ausbildungen in der Medizin beanspruchen Zeit, da viel Erfahrungswissen kumuliert werden muss: Die Studentin, die heute mit dem Medizinstudium beginnt, ist frühestens in zwölf Jahren Hausärztin; die Lernende, die sich für das EFZ MPA entschieden hat, ist frühestens in acht Jahren eine beruflich erfahrene MPK. Somit bringt eine Ausbildungsoffensive allein zu wenig. Arbeitsbedingungen und -inhalte müssen jetzt angepasst werden.
Bei den Arbeitsinhalten geht es um administrative Entlastung. Der durch Regulationen des BAG verursachte administrative Aufwand ist zu reduzieren. Jeder Hausarzt könnte ohne diesen administrativen Aufwand wohl täglich acht Patienten mehr behandeln. Nur schon eine Bewilligung zur Anstellung von Praxisassistenzärztinnen und -ärzten in Weiterbildung nimmt Monate in Anspruch, von Praxisbewilligungen für junge Kolleginnen und Kollegen, die ihre Weiterbildung abgeschlossen haben, ganz zu schweigen. Alle Kolleginnen und Kollegen, die sich um ärztlichen Nachwuchs bemühen, kämpfen gegen die Windmühlen der BAG-Regulationen sowie mit kantonalen Rahmenbedingungen, die mal helfen oder mal das Problem noch massiv verschärfen. Die Zufriedenheit der Hausärztinnen und Hausärzte in der Schweiz hat in nur drei Jahren, von 2019 bis 2022, nochmals signifikant abgenommen und ist von 69% auf 58% gefallen.
Welches Unternehmen wäre mit 42% unzufriedener Kunden so entspannt wie unsere Gesundheitspolitik und das BAG? Ausbaden tun es letztlich auch die Patientinnen und Patienten, was uns als Ärzteschaft betrübt. Eine Ausbildungsoffensive alleine ist absolut nicht hinreichend und zeigt in jedem Fall erst viel zu spät einen messbaren Effekt. Sie ist in etwa so effizient, wie wenn jemand mehr Wasser in einen Kupferkessel mit 50 Löchern giesst, um den Wasserspiegel zu halten. Das BAG und die Gesundheitspolitik müssen sich dringlich bemühen, die Hälfte der Löcher, die sie mit ihren Regulationen in den Kessel gebohrt haben, zu flicken.
1 Obsan Bericht 4/2021; Zukünftige ambulante Grundversorgung: Einstellungen und Präferenzen der Bevölkerung; URL: https://www.obsan.admin.ch/sites/default/files/2021-09/Obsan_04_2021_BERICHT.pdf
3 Universitätsspital Basel; Routine Antibiotic Prescription Monitoring in Primary Care Physicians: A Nationwide Trial; URL: https://beta.clinicaltrials.gov/study/NCT03379194
4 Lhopitallier L, Kronenberg A, Meuwly J, Locatelli I, Mueller Y, Senn N, D’Acremont V, Noémie Boillat-Blanco N. Procalcitonin and lung ultrasonography point-of-care testing to determine antibiotic prescription in patients with lower respiratory tract infection in primary care: pragmatic cluster randomised trial; URL: https://www.bmj.com/content/374/bmj.n2132