Volle Notfallstationen und geschlossene Betten

Leitartikel
Ausgabe
2023/11
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21641
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(11):26-27

Publiziert am 15.03.2023

Spitäler am Limit Jana Siroka hört von Kolleginnen und Kollegen fast täglich Berichte über die Auswirkungen des Fachkräftemangels. Schweizweit sind in vielen Spitälern Betten geschlossen – oder es wird unter höherer Belastung in knapp besetzten Schichten gearbeitet.
Ein junger Assistenzarzt aus der Ostschweiz schreibt per Mail: «Meine Kollegin hat gestern auf der Notfallstation im Nachtdienst 41(!) Spitäler angerufen, um für einen Patienten ein Bett zu suchen. Es war vergeblich.» Auch auf der Station ist der Bettendruck deutlich spürbar; immer wieder treten Patientinnen und Patienten ohne tragfähige Anschlusslösung aus, müssen dann erneut hospitalisiert werden, was abermals zu einer Belastung der Spitalstruktur führt. Diese Situation ist nicht neu. Doch die Lage spitzt sich zu. Mittlerweile wird dies auch für viele Bürgerinnen und Bürger spürbar, wenn sie eine Hausärztin oder einen Hausarzt suchen oder auf der überfüllten Notfallstation warten müssen.
Jana Siroka
Dr. med., Mitglied des FMH-Zentralvorstandes und Departementsverantwortliche Stationäre Versorgung und Tarife

Nachfrage und Angebot divergieren

Die Zahl von Menschen im hohen Alter, die gebrechlich sind, steigt. Besonders besorgniserregend ist jedoch, dass zunehmend junge Menschen ärztlichen Rat suchen. FMH-Daten zeigen, dass die Patientenzahlen seit Jahren kontinuierlich ansteigen. Krisen, wie wir sie zuletzt in der Pandemie erlebt haben, verstärken die Verunsicherung bezüglich Gesundheitsfragen und führen zu einer Zunahme der Konsultationen. Gleichzeitig manifestiert sich ein Umdenken in der jüngeren Ärztegeneration, die ihre Prioritäten neu gewichtet. Viele sind nicht mehr bereit, für eine Vollzeittätigkeit 50 Stunden pro Woche zu arbeiten – in der Realität sind es bei den Spitalärztinnen und -ärzten im Schnitt eher 55 Stunden. Im Gegenteil: Der Wunsch nach einer Arbeitszeitreduktion auf eine 42-Stunden-Woche ist gross.
Crying doctor during COVID-19 needing help in hospital. Healthcare workers in despair over emergency need of PPE and distress. Coronavirus crisis death, dispair, mental health anxiety
Der Fachkräftemangel bewirkt, dass viele Ärztinnen und Ärzte an den Rand ihrer Belastbarkeit kommen.
© Martinmark / Dreamstime
Während traditionell hauptsächlich Ärztinnen aufgrund familiärer Verpflichtungen eine Teilzeitstelle suchten, besteht das Bedürfnis zunehmend unabhängig vom Geschlecht in allen Fachrichtungen der Medizin. Es geht um Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. Das Festhalten an der wöchentlichen Sollarbeitszeit von 50 Stunden bedingt, dass ab Beginn der Facharztausbildung Teilzeitstellen gefragt sind – was wiederum eine verlängerte Weiterbildungszeit zur Folge hat. Durch all dies geht die Schere zwischen Nachfrage und Angebot immer mehr auf.

Auslandrekrutierung mit Folgen

Die Probleme sind seit Jahrzehnten bekannt und dennoch bildet die Schweiz zu wenig Ärztinnen und Ärzte aus. 2021 haben 1100 Schweizer Medizinstudierende das Studium abgeschlossen, während im selben Jahr rund 2700 ausländische Diplome anerkannt wurden.
Die Abhängigkeit vom Ausland ist immens. In den letzten 10 Jahren wurden 26% der Ärztinnen und Ärzte in der Schweiz ausgebildet; 74% kamen aus dem Ausland! Entsprechend intensiv wird in der Schweiz um die ausländischen Kolleginnen und Kollegen geworben.
Da sich der Fachkräftemangel auch im umgebenden Ausland verstärkt, hat sich nun ebenso der internationale Wettbewerb um diese Fachkräfte intensiviert. Nebst dem Braindrain von Fachkräften – wohlgemerkt nach Finanzierung des Studiums – als Problem für andere Länder, hat die Notwendigkeit, im Ausland Fachkräfte zu rekrutieren, auch Konsequenzen für die Schweizer Bevölkerung: Kann der Kinderarzt der kleinen Tochter nur gebrochen Deutsch sprechen oder ist die Psychiaterin mit den kulturellen Gepflogenheiten ihrer Patientinnen und Patienten nicht vertraut, führt dies zu Fehldiagnosen, Missverständnissen und Frustration. Die Zahlen des Fachkräftemangel-Index der Universität Zürich [1] sind zwar besorgniserregend, leider aber nicht überraschend. Der Index erreichte 2022 einen Rekordwert. Wenig erstaunlich: Den ersten Platz des Fachkräftemangel-Rankings belegen Fachkräfte im Gesundheitssektor.
Die repräsentative Befragung der Ärzteschaft im Auftrag der FMH [2] von 2022 zeigt zudem, dass die Spitalärzteschaft mehr unter Stress leidet als noch vor zehn Jahren. Eine wachsende Anzahl hat ausserdem das Gefühl, das tägliche Arbeitspensum nicht mehr gemäss den fachlichen Anforderungen des Berufs meistern zu können. Ein über die Jahre grösser werdender Anteil der Spitalärztinnen und Spitalärzte sieht die Patientenversorgung durch die hohe Arbeitsbelastung oder den vermehrten Zeitdruck beeinträchtigt. Es überrascht nicht, dass bei der intrinsisch hoch motivierten jungen Ärzteschaft die Zufriedenheit mit der eigenen Tätigkeit abnimmt. Wenn die Arbeit nicht zufriedenstellend zu bewältigen ist, wird die Identifikation mit der eigenen Arbeit schwierig.
Eine Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz 2020 [3] beinhaltet folgende Aussage: «Eine Mehrheit der Ärztinnen und Ärzte im Spital ist der Meinung, mindestens einmal darüber nachgedacht zu haben, aus der aktuellen Tätigkeit auszusteigen. 21% gaben gar an, einen Ausstieg aus dem Arztberuf in Betracht zu ziehen beziehungsweise haben sich schon definitiv dazu entschieden. Die Hauptgründe dafür sind die Arbeitsbedingungen, wie zum Beispiel die langen Arbeitszeiten, sowie die fehlende Vereinbarkeit von Familie, Freizeit und Beruf.»

Welche Lösungen gibt es?

Wir werden nicht daran vorbeikommen, die Anzahl Ausbildungsstellen im Medizinstudium zu erhöhen. Auch Erhöhungen von Pensen bei Teilzeiterwerbstätigen sind nicht unmöglich, allerdings nur dann realistisch, wenn die Rahmenbedingungen sich verbessern. Hier ist in erster Linie das Problem der Mikroregulierung zu nennen. Patientendokumentation, Administration, Organisation und Koordination von Terminen nehmen einen Grossteil des Alltags von Spitalärztinnen und Spitalärzten ein. Die Delegation der nicht-ärztlichen Tätigkeiten auf hierfür geschulte Berufsgruppen hat das Potenzial, das fachliche Niveau von Ärztinnen und Ärzten durch eine Fokussierung auf die Kernkompetenzen in reduzierter Arbeitszeit beizubehalten oder sogar zu stärken.
Wichtig ist gleichzeitig, dass vom Gesetzgeber vor jedem neuen Gesetz und vor jeder neuen Verordnung darauf geachtet wird, den betroffenen Berufsgruppen zuzuhören. So wird die Praxistauglichkeit evaluiert. Die Folgen der Bürokratisierung müssen vorgängig abgeschätzt werden. Ich hoffe, dass die politischen Entscheidungsträger aufwachen und die Realität im Spital erkennen. Denn vor dem Geld werden uns in der Schweiz die Fachkräfte ausgehen.
Wichtig wäre, dass der Arztberuf wieder so attraktiv wird, dass die Absolventinnen und Absolventen auch im Beruf bleiben. Dafür müssen wir nicht nur darüber nachdenken, warum wir ausbrennen. Wir sollten uns auch die Frage stellen, wofür wir brennen – was begeistert uns als Ärztinnen und Ärzte so, dass es uns im Beruf hält? Das sollten wir stärken. Zeit für Patientenkontakte. Zeit für Sorgfalt. Zeit für Zusammenarbeit. Zeit fürs Lernen. Gesunde Arbeitsbedingungen bilden dafür nur die Grundlage – aber auch die Voraussetzung. Vielleicht sollten wir von der Wirtschaft nicht nur die Gewinnoptimierung lernen. Längst beschäftigen sich grosse Unternehmen vermehrt mit neuen Arbeitsformen, bei denen teambasierte Organisationsmodelle, Sinnorientierung, Selbstorganisation, flache Hierarchien, Agilität aber auch Life- Balance mit flexiblen Zeiten dazugehören. Deutlich ist: Wir müssen nicht nur unsere Patientinnen und Patienten, sondern auch unsere Gesundheitsinstitutionen behandeln. Dazu benötigen wir alle Akteure im Gesundheitswesen.
1 Universität Zürich. Stellenmarkt-Monitor Schweiz. Fachkräftemangel-Index Schweiz. URL: https://www.stellenmarktmonitor.uzh.ch/de/indices/fachkraeftemangel.html
3 Fachhochschule Nordwestschweiz. Wie kommunizieren Ärztinnen und Ärzte untereinander? Studienerkenntnisse für eine verbesserte Kommunikation zwischen Generationen im Spital. Ein praxisnaher Spitalbericht. 2020. URL: https://www.fhnw.ch/de/die-fhnw/hochschulen/hsw/icc/healthcare/media/spitalbericht-kommunikation-fhnw.pdf