Bariatrische Chirurgie – ein Auslaufmodell?

Schwerpunkt
Ausgabe
2023/1415
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21645
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(1415):76-77

Besprochener Wirkstoff

Publiziert am 05.04.2023

Adipositas-Therapie Die chronische Krankheit Adipositas stellt eine der grössten Herausforderungen für die heutigen Gesundheitssysteme dar. Neue Medikamente für die Therapie der Adipositas werden in Zukunft eine Gewichtsreduktion ermöglichen, die vergleichbar mit den Ergebnissen einer bariatrischer Chirurgie sind.
Bereits heute sind in Europa fast 60% aller Erwachsenen und ein Drittel aller Kinder von Adipositas oder Übergewicht betroffen – mit weiter stark steigender Tendenz [1]. Adipositas stellt einen Hauptrisikofaktor für Herz-Kreislauf Erkrankungen, Diabetes mellitus Typ 2, die Fettlebererkrankung sowie verschiedenste Krebserkrankungen dar und ist mit einer erhöhten Gesamtmortalität assoziiert [2, 3].
Adipositas ist eine komplexe, multifaktorielle Erkrankung, bei der (epi)genetische und (neuro)biologische Faktoren eine Rolle spielen, die durch äussere Faktoren, dem sogenannten «Lifestyle», ungünstig beeinflusst werden [4]. Eine zentrale Rolle bei der Entstehung von Adipositas kommt den veränderten neurobiologischen Prozessen im Gehirn zu, welche in weitestgehend autonomer, nicht willentlich beeinflussbarer Weise vorgeben, was, wann und wie wir essen und wie die Stoffwechselprozesse im Körper ablaufen [5]. Der Patient mit Adipositas ist also nicht übergewichtig, weil er zu viel isst, er isst zu viel, weil er an Adipositas erkrankt ist. Dies macht deutlich, warum kurzfristige Verhaltens-Interventionen bezüglich des „Lifestyles“ in den allermeisten Fällen nicht zu einer langfristigen und nachhaltigen Gewichtsreduktion führen können, da die ursächlichen biologischen Mechanismen therapeutisch nicht adressiert werden. Zudem ist bis heute noch immer der Irrglaube verbreitet, dass Adipositas eine Folge unzureichender Willensanstrengung ist und sich die betroffenen Menschen «einfach mehr anstrengen, weniger essen und mehr bewegen sollten» [6]. Die daraus resultierende Abwertung und Stigmatisierung führen bei den meisten Betroffenen zu einer Internalisierung mit Selbstvorwürfen und Schuldgefühlen. Das setzt eine sehr gefährliche Spirale in Gang, die durch den entstehenden psychologischen Stress beispielsweise emotionales Essverhalten und damit eine weitere Gewichtszunahme fördert [7-11].
Zentrale Grundpfeiler der Adipositas-Therapie sind Entstigmatisierung und Wertschätzung des Patienten mit Adipositas und eine individuelle, multimodale Therapie.
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Adipositas-Therapie heute

Eine ausgewogene, individuell angepasste Ernährung und einen Ausbau der körperlichen Aktivität sind neben der Behandlung von psychischen Erkrankungen wie Depressionen und Angststörungen, die häufig mit Adipositas assoziiert sind [12], zentrale Grundpfeiler der Adipositas-Therapie [13-15]. Abhängig vom Ausmass der Adipositas und den vorhandenen Folgeerkrankungen ist eine gezielte Therapie der Adipositas entweder mit den heute verfügbaren GLP-1-Analoga wie dem Liraglutide, oder mit einer bariatrischen Operation indiziert. GLP-1-Analoga setzten dort an, wo Adipositas entsteht: im Gehirn. Dort bewirken sie eine Verstärkung des Sättigungs- und eine Verringerung des Hungergefühls, so dass es zu einer Reduktion der Nahrungsaufnahme kommt. In Studien konnte eine mittlere Abnahme des Körpergewichts um 10% vom Ausgangsgewicht gezeigt werden [16, 17]. Die individuellen Effekte können aber stärker und schwächer ausfallen. Damit sind die GLP-1-Analoga vor allem bei Patientinnen und Patienten mit leichter bis moderater Adipositas indiziert. Neben der Gewichtsreduktion haben GLP-1-Analoga weitere günstige Wirkungen auf Stoffwechselprozesse wie die Fettverbrennung, den Zuckerstoffwechsel und die Senkung des systolischen Blutdrucks [18]. Bei ausgeprägter Adipositas und vor allem bei Vorliegen multipler Folgeerkrankungen ist oft primär eine bariatrische Operation indiziert. Der Magenbypass oder die Schlauchmagenoperation stellen eine sehr effektive und sichere Methode dar, das Gewicht um 25-30% vom Ausgangsgewicht zu senken und Adipositas-assoziierte Begleiterkrankungen zu verringern oder gar vollständig zu heilen [19]. Dies geht einher mit einer deutlichen Zunahme der Lebensqualität, einer Reduktion der Mortalität um fast 50% und einer Zunahme der Lebenserwartung um fünf bis neun Jahre [20].

Adipositas-Therapie morgen

Neue potente Medikamente in der Pipeline, wie das langwirksame GLP-1-Analogon Semaglutide [21] und der duale GIP-GLP-1-Agonist Tirzepatide [22] lassen neben weiteren neuen Wirkstoffen [23], welche sich zur Zeit in Phase I-III Studien befinden, eine Gewichtsreduktion von 16 bis 23% oder mehr erwarten. Somit stellt sich die Frage, welchen Stellenwert die bariatrischen Operationen in Zukunft einnehmen werden. 20 bis 25% der Patientinnen und Patienten sprechen nicht auf eine Behandlung mit dem GLP-1-Analogon Liraglutide an [16]. Auch in Zukunft wird es immer Patientinnen und Patienten geben, die auf die neuen Medikamente nicht oder nur unzureichend ansprechen, mit inakzeptablen Nebenwirkungen reagieren oder nicht gewillt sind, diese anzuwenden. Für diese Patientinnen und Patienten wie für Menschen mit ausgeprägter Adipositas und multiplen Folgeerkrankungen ist die bariatrische Chirurgie sicher weiterhin die Therapie der Wahl. Ganz in Analogie zur heute weit ausdifferenzierten und individualisierten Therapie von Krebspatienten müssen in Zukunft auch bei der Therapie von Menschen mit Adipositas alle Bestrebungen dahin gehen, eine möglichst breite Palette an unterschiedlichen Behandlungsoptionen zur Verfügung zu haben, aus der massgeschneiderte Therapiekonzepte für den einzelnen Patienten entwickelt werden können. Diese müssen nicht nur der Schwere der Adipositas und den vorliegenden Begleiterkrankungen Rechnung tragen, sondern massgeblich auch den Wünschen und Bedürfnissen sowie der Lebenswirklichkeit der Patientinnen und Patienten entsprechen. Denn eine erfolgreiche Adipositas-Therapie stellt immer die Patienten ins Zentrum.

Für Sie zusammengefasst vom:

SGED/SSED-Kongress | 17.-18.11.2022| Bern

Fazit

Die neuen Anti-Adipositas-Medikamente stellen eine lang ersehnte und dringend benötigte Erweiterung der Behandlungsmöglichkeiten für die Therapie der chronischen Krankheit Adipositas dar, werden aber die bariatrische Chirurgie nicht komplett verdrängen oder ersetzen. Grundpfeiler der erfolgreichen Adipositas-Therapie ist heute wie in Zukunft ein interdisziplinäres, multimodales Setting – gepaart mit individuell auf den einzelnen Patienten zugeschnittenen Lösungen.
Prof. Dr. med. Katharina Timper
Leitende Ärztin und Leiterin Adipositassprechstunde und Ernährung. Forschungsgruppenleiterin «Obesity Research» an der Klinik für Endokrinologie/Diabetologie/Metabolismus am Universitätsspital Basel.
Prof. Dr. med. Ralph Peterli
Stellvertretender Chefarzt Viszeralchirurgie, Leiter Forschung Viszeralchirurgie und bariatrisches Referenzzentrum Clarunis – Universitäres Bauchzentrum Basel am St. Claraspital und Universitätsspital Basel.
1 World Health Organisation (WHO). WHO European Regional Obesity Report 2022. https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/353747/9789289057738-eng.pdf (abgerufen am 01.03.2023).
2 Berrington de Gonzalez A, Hartge P, et al. Body-mass index and mortality among 1.46 million white adults. N Engl J Med. 2010 Dec 2;363(23):2211-9.
Whitlock G, Lewington S, et al. Body-mass index and cause-specific mortality in 900 000 adults: collaborative analyses of 57 prospective studies. Lancet. 2009 Mar 28;373(9669):1083-96.
3 Blüher M. Obesity: global epidemiology and pathogenesis. Nat Rev Endocrinol. 2019 May;15(5):288-298.
4 Timper K, Brüning JC. Hypothalamic circuits regulating appetite and energy homeostasis: pathways to obesity. Dis Model Mech. 2017 Jun 1;10(6):679-689.
5 Sharma AM, Bélanger A, et al. Perceptions of barriers to effective obesity management in Canada: Results from the ACTION study. Clin Obes. 2019 Oct;9(5):e12329.
6 Puhl RM, Brownell KD. Confronting and coping with weight stigma: an investigation of overweight and obese adults. Obesity (Silver Spring). 2006 Oct;14(10):1802-15.
7 Himmelstein MS, Puhl RM, Quinn DM. Intersectionality: An Understudied Framework for Addressing Weight Stigma. Am J Prev Med. 2017 Oct;53(4):421-431.
8 Pearl RL, Puhl RM. Weight bias internalization and health: a systematic review. Obes Rev. 2018 Aug;19(8):1141-1163.
9 Himmelstein MS, Puhl RM, Pearl RL, Pinto AM, Foster GD. Coping with Weight Stigma Among Adults in a Commercial Weight Management Sample. Int J Behav Med. 2020 Oct;27(5):576-590.
10 Puhl RM, Lessard LM, Himmelstein MS, Foster GD. The roles of experienced and internalized weight stigma in healthcare experiences: Perspectives of adults engaged in weight management across six countries. PLoS One. 2021 Jun 1;16(6):e0251566.
11 Fulton S, Décarie-Spain L, Fioramonti X, Guiard B, Nakajima S. The menace of obesity to depression and anxiety prevalence. Trends Endocrinol Metab. 2022 Jan;33(1):18-35.
12 Schweizerische Adipositas-Stiftung SAPS. Schweizer Praxisleitfaden Adipositas 2016. https://saps.ch/de/home/paxisleitfaden-adipositas-2016 (abgerufen am 01.03.2023).
13 The European Association für the Study of Obesity. Guidelines. https://easo.org/education/guidelines (abgerufen am 01.03.2023).
14 Canadian Adult Obesity Clinical Practice Guidelines (CPGs). https://obesitycanada.ca/guidelines/ (abgerufen am 01.03.2023).
15 Fujioka K, O‘Neil PM, Davies M, et al. Early Weight Loss with Liraglutide 3.0 mg Predicts 1-Year Weight Loss and is Associated with Improvements in Clinical Markers. Obesity (Silver Spring). 2016 Nov;24(11):2278-2288.
16 le Roux CW, Astrup A, et al. SCALE Obesity Prediabetes NN8022-1839 Study Group. 3 years of liraglutide versus placebo for type 2 diabetes risk reduction and weight management in individuals with prediabetes: a randomised, double-blind trial. Lancet. 2017 Apr 8;389(10077):1399-1409.
17 Drucker DJ. Mechanisms of Action and Therapeutic Application of Glucagon-like Peptide-1. Cell Metab. 2018 Apr 3;27(4):740-756.
18 Peterli R, Wölnerhanssen BK, et al. Effect of Laparoscopic Sleeve Gastrectomy vs Laparoscopic Roux-en-Y Gastric Bypass on Weight Loss in Patients With Morbid Obesity: 19 The SM-BOSS Randomized Clinical Trial. JAMA. 2018 Jan 16;319(3):255-265.
20 Syn NL, Cummings DE, et al. Association of metabolic-bariatric surgery with long-term survival in adults with and without diabetes: a one-stage meta-analysis of matched cohort and prospective controlled studies with 174 772 participants. Lancet. 2021 May 15;397(10287):1830-1841.
21 Wilding JPH, Batterham RL, et al. STEP 1 Study Group. Once-Weekly Semaglutide in Adults with Overweight or Obesity. N Engl J Med. 2021 Mar 18;384(11):989-1002.
22 Jastreboff AM, Aronne LJ, et al. SURMOUNT-1 Investigators. Tirzepatide Once Weekly for the Treatment of Obesity. N Engl J Med. 2022 Jul 21;387(3):205-216.
23 Müller TD, Blüher M, Tschöp MH, DiMarchi RD. Anti-obesity drug discovery: advances and challenges. Nat Rev Drug Discov. 2022 Mar;21(3):201-223.

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