Auf den Punkt

«Ich kann nicht mehr»

News
Ausgabe
2023/11
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21646
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(11):6-7

Publiziert am 15.03.2023

Arbeitsbedingungen Immer mehr Assistenzärztinnen und -ärzte sind am Rande ihrer Belastbarkeit. Viele denken darüber nach, den Beruf ganz aufzugeben. Was sich jetzt ändern muss, um die Fachkräfte zu halten – und welche kleinen Massnahmen viel bewirken können.
Der Jahresbericht von ReMed zeigt, dass es diese Institution mehr denn je braucht. Die Zahl der hilfesuchenden Ärztinnen und Ärzte war im Jahr 2022 so hoch wie nie zuvor. Diese Entwicklung spricht für die Qualität von ReMed. Die wertvolle Unterstützung spricht sich herum. Leider spiegelt die Nachfrage aber auch eine weitere Realität: Die schlechten Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen wirken sich auf das Wohlbefinden und die Gesundheit von immer mehr Ärztinnen und Ärzten negativ aus.
Warum ist es nicht überraschend, dass die Hilfesuchenden bei ReMed zahlreicher und jünger werden? Wir hören regelmässig von Missständen am Arbeitsplatz, die die Ärztinnen und Ärzte belasten: über unsere Meldestelle für arbeitsrechtliche Probleme, die seit der Einführung im Mai 2022 rege genutzt wird, über die Rechtsberatung, die wir unseren Mitgliedern anbieten sowie bei persönlichen Kontakten.
Tired doctor sitting hospital corridor floor. Overwhelmed surgeon resting alone.
Überarbeitet: Viele Assistenzärztinnen und -ärzte sind überlastet und fürchten sich vor einem Burn-out.
© Valery Kazlitsinau / Dreamstime

Erschreckende Umfrageergebnisse

Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) berichtete im Februar über die Resultate einer Umfrage, die sie im Dezember gestartet hatte und an der sich 4500 Assistenzärztinnen und -ärzte beteiligten [1]. Das Bild ist ebenso eindeutig wie erschreckend. Fast 40% der Befragten arbeiten im Durchschnitt länger als elf Stunden pro Tag, nur bei 7% sind es weniger als zehn Stunden. Drei Viertel machen im Schnitt weniger als die gesetzlich vorgeschriebenen mindestens 30 Minuten Mittagspause. 80% haben schon Fehler gemacht, weil sie übermüdet waren. Das wirkt sich auf die ärztliche Gesundheit aus: 5% der Befragten haben bereits ein Burn-out erlitten, gut die Hälfte fürchtet sich davor. Fast Dreiviertel haben sich schon mit dem Gedanken beschäftigt, den Beruf aufzugeben.
Die NZZ-Umfrage ist nicht repräsentativ, aber die Ergebnisse sind plausibel. Der vsao befragt seine Mitglieder alle drei Jahre umfassend zu Arbeits- und Weiterbildungsbedingungen. Die Ergebnisse der aktuellen Umfrage werden erst im Mai vorliegen, aber bereits die letzte Befragung 2020 zeigte, dass sich die Arbeitssituation zunehmend negativ auf das Wohlbefinden und die Gesundheit der Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte auswirkt. 2020 gaben 56% an, sie seien meistens oder häufig müde, knapp ein Drittel war meistens oder häufig körperlich und/oder emotional erschöpft, 40% gaben an, dass sie mindestens ab und zu denken «Ich kann nicht mehr». Alle diese Werte waren 2020 höher als bei den Befragungen 2017 und 2014. Das gleiche Bild auch in Bezug auf die Auswirkungen auf die Patientinnen und Patienten. 2014 gaben 47% an, sie hätten es nie erlebt, dass eine Patientin oder ein Patient wegen beruflicher Übermüdung der Ärztinnen und Ärzte gefährdet wurde, 2017 waren es noch 40%, 2020 noch 33%. Die Ergebnisse der NZZ-Umfrage deuten nicht darauf hin, dass diese negativen Trends 2023 gebrochen werden.

Massnahmen mit grosser Wirkung

Die Schlussfolgerung ist klar: So kann es nicht weitergehen. Den Assistenzärztinnen und -ärzten geht es von Jahr zu Jahr schlechter. Wenn die Trendwende nicht gelingt, bleibt das für das Gesundheitswesen und die Gesellschaft nicht ohne Folgen. Der ärztliche Nachwuchs ist ohnehin knapp, weil nicht genügend Studienplätze verfügbar sind. Wenn die Medizinerinnen und Mediziner ihren Beruf schon während oder kurz nach der Weiterbildung wieder verlassen, sind die Folgen erst recht verheerend. ReMed kann zwar einzelnen Personen helfen, das systemische Problem lässt sich damit aber nicht lösen. Wir brauchen eine nachhaltige Verbesserung der Arbeits- und Weiterbildungsbedingungen und eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. Oft können in Spitälern vergleichsweise «kleine» Massnahmen viel bewirken: Verbesserte Dienstplanung (der vsao bietet eine kostenlose Dienstplanberatung an), Reduktion von Bürokratie («Medizin statt Bürokratie»), vermehrte Involvierung der Mitarbeitenden (Selbstbestimmung statt Fremdsteuerung). Wenn die Probleme erkannt und die richtigen Massnahmen ergriffen werden, sehen wir hoffentlich bald wieder mehr zufriedene Ärztinnen und Ärzte und weniger hohe Zuwachsraten bei ReMed.
Dr. med. Nora Bienz
Vizepräsidentin des Verbands Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte (vsao Schweiz), Co-Präsidentin vsao Bern, Oberärztin, Inselspital Bern
Lesen Sie auch den Jahresbericht von ReMed ab Seite 28.