Androgenetische Alopezie für Fortgeschrittene

Schwerpunkt
Ausgabe
2023/19
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21735
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(19):68-69

Publiziert am 10.05.2023

Unerwartete Komplexität Die androgenetische Alopezie (AGA) ist das Schulbeispiel einer einfach zu stellenden Diagnose – der Patient kann schnell und einfach therapeutisch versorgt werden. Dies wird vom Anfänger vertreten und ist falsch.
Die AGA als Effekt der Androgene auf das Kopfhaar ist tatsächlich einfach zu diagnostizieren, weil sie als Teil des Alterns nach der Pubertät immer vorliegt; eine Diagnose ohne Gradierung zum Altersabgleich ist jedoch nichtssagend. Vor der Therapie müssen Simulatoren und verstärkende Faktoren ausgeschlossen werden [1]. Auch die korrekte Wahl der Behandlung bedarf einiger Überlegungen.
Bei Frauen ist gemäss Leitlinien topisches Minoxidil die einzige evidenzbasierte Therapie. Gerade dieses sollte man nicht unbedacht verordnen, da es wegen des heftigen Rebounds beim Absetzen eine Verheiratung der Patientin «bis dass der Tod sie scheidet» bedeutet. Bei Schwangerschaft ist es aber kontraindiziert und muss in diesem Falle gestoppt werden – der Rebound ist also vorprogrammiert und wird durch die Schwangerschaft nicht verhindert. Deswegen sollte man Minoxidil erst nach Abschluss der Familienplanung einsetzen.
Vor Abschluss der Familienplanung stehen Alternativen zur Verfügung. Sie sind zwar nicht evidenzbasiert aber zeigen in Studien und in der klinischen Erfahrung eine gute Wirkung. Eine antiandrogene, kombinierte orale Kontrazeption (KOK) ist nur in milden Fällen zielführend; in schwereren Fällen ist die Dosierung des antiandrogenen Gestagens ungenügend, weswegen eine KOK mit Cyproteronacetat gewählt und dieses additiv zugesetzt wird. Wegen Sorge über Meningeome bei hoher Dosierung über längere Zeit wird man nach anfangs 50 mg langfristig auf 10 mg reduzieren und darauf achten, dass die höhere Gestagengabe nicht zur relativen Hypoöstrogenie führt: Bei Haarausfall trotz antiandrogener KOK wird das Östrogen (E2) während der Pille-Einnahme gemessen und sollte nicht deutlich unter dem tiefsten Wert im ovulatorischen Zyklus liegen [2]. Bei KOK-induzierter Hypoöstrogenie, bei grundsätzlicher Kontraindikation einer KOK sowie bei jungen Mädchen vor regelmässigem Zyklus [3, 4] kann Spironolacton eine vergleichbare antiandrogene Wirkung entfalten (off-label, optimal 100 mg/Tag); hier tritt beim Absetzen kein Rebound auf.
Abbildung 1A: 45-jährige Frau: Haarausfall im sechsten Jahr der Levonorgestrel-Spirale, aufgetreten also nach der Fünf-Jahre-Erneuerung.
Abbildung 1B: Sechs Monate nach Entfernen der Spirale.
Nach Abschluss der Familienplanung ist topisches Minoxidil tatsächlich wertvoll. Alternativ kann ebenfalls Spironolacton vorgeschlagen werden (Elektrolyte ab 45 Jahren überwachen [5, 6]). Bei Bluthochdruck wird das Antihypertensivum durch dieses ersetzt. Bei Adipositas und erhöhter Insulinresistenz, oder auch bei Adipositas und Status nach Mammakarzinom ist auch Metformin für seine antiandrogene und onkoprotektive Wirkung zuzusetzen. Systemisches, tief-dosiertes Minoxidil ist aktuell «en vogue». Nebenwirkungen sind in der praktischen Erfahrung allerdings häufiger als in den Publikationen, dabei ist die «Verheiratung» gleich wie bei der topischen Anwendung; deswegen sollte der Einsatz restriktiv erfolgen, nämlich bei Allergie auf topisches Minoxidil [7] oder bei dessen Unwirksamkeit wegen angenommener ungenügender kutaner Sulfotransferasen.
Wichtig ist ab 40 Jahren an den nun einsetzenden, schnellen E2-Abfall, aber den nur sehr langsamen Testosteronabfall zu denken; die Therapie muss diese beiden im Ausgleich halten. Eine KOK kann mit der Zeit nicht mehr toleriert werden, wenn mit dem sinkenden, endogenen E2 die Ovarsuppression zur Hypoöstrogenie führt. Ebenfalls kann die gute Toleranz beim ersten Einsetzen einer androgenisierenden Levonorgestrel-Spirale verloren gehen. Die sinkende Levonorgestrel-Sekretion und der parallel sinkende E2-Spiegel bleiben anfangs im Gleichgewicht, beim Ersatz der Spirale trifft aber eine frische Anfangssekretion auf einen gealterten Körper mit nun erniedrigtem E2 und führt zum Haarausfall: Man sollte dann die Hormonspirale durch die Kupferspirale ersetzen. In der Menopause kann die Ovarialinsuffizienz so ausgeprägt sein, dass der Haarausfall nicht mehr durch eine relative Hyperandrogenie, aber durch den E2-Mangel entsteht: der Haarausfall ist dann in der Wertigkeit durchaus Schlafstörungen oder Wallungen gleichzusetzen und in der oft zu zögerlichen Entscheidung zur Hormontherapie [8] einzubeziehen, wohingegen Spironolacton ohne hohen Androgenspiegel aus der Nebenniere nutzlos bliebe; das E2 sollte auch hier nicht deutlich unter dem tiefsten Wert im ovulatorischen Zyklus liegen.
Bei Männern stehen topisches Minoxidil und systemisches Finasterid zur Verfügung, wobei ersteres kaum jemals lebenslang angewandt wird – der Rebound wirkt sich gerade nach Haaroperationen unschön aus, wenn die Transplantate stehen bleiben und die ortsansässigen Haare ausfallen. Die Beratung sollte dann eher auf das systemische Finasterid zielen, nach Aufklärung über die seltenen Nebenwirkungen. Das zwischenzeitlich aus dem Ausland erhältliche topische Finasterid führt auch zu deutlichem Abfall des Serum-Dihydrotestosterons (DHT), nämlich um doch auch 35% statt 56% vom Ausgangswert [9], weswegen dieses bei Empfindlichen kaum als Alternative gelten kann.
Bei Transsexuellen richtet sich die Therapie nach dem Zielgeschlecht und erfolgt teilweise im Rahmen der Geschlechtsangleichung. Bei Transmännern muss man allerdings warten, bis die Maskulinisierung abgeschlossen ist, bevor Finasterid als DHT-Hemmer eingesetzt wird; bei Depression ist es kontraindiziert. Bei Transfrauen muss man auch im Menopausealter eine adäquate Hormonbehandlung fortsetzen [10].
Die Behandlung der AGA sollte nicht reflexartig erfolgen, sondern sich der Komplexität der im Leben wechselnden individuellen Zustände und Bedürfnisse stellen, wobei Therapeutika kombiniert werden können. Dann ist eine erfolgreiche Betreuung der Patientinnen und Patienten möglich.
Dr. med. Pierre de Viragh
Befasst sich seit 30 Jahren schwerpunktmässig mit Haarkrankheiten (NYU, CHUV, IB) und leitet seit 2008 als Konsiliarius die Trichologie am Inselspital. Praxis für allgemeine Dermatologie in Zürich.
PD Dr. med. et. Dr. phil. nat. S. Morteza Seyed Jafari
Oberarzt für Dermatologie an der Universitätsklinik für Dermatologie am Inselspital Bern.

Für Sie zusammengefasst vom:

Swiss Derma Day and STI Reviews and Updates 2023
11.-12.01.2023
Luzern
Pierredeviragh[at]bluewin.ch
1 de Viragh PA. Androgenetische Alopezie: Pseudohormoneller Haarausfall und andere Simulatoren. Swiss Med Forum. 2018;18(44):900-906.
2 Mishell DR, Thorneycroft IH, Nakamura RM, Nagata Y, Stone SC. Serum estradiol in women ingesting combination oral contraceptive steroids. Am J Obstet Gynecol. 1972 Dec 1;114(7):923-8; 114:923-8.
3 Rajashekar S, Giri Ravindran S, Kakarla M, et al. Spironolactone Versus Oral Contraceptive Pills in the Treatment of Adolescent Polycystic Ovarian Syndrome: A Systematic Review. Cureus. 2022 May 25;14(5):e25340.
4 Yazdabadi A, Green J, Sinclair R. Successful treatment of female-pattern hair loss with spironolactone in a 9-year-old girl. Australas J Dermatol. 2009 May;50(2):113-4.
5 Plovanich M, Weng QY, Mostaghimi A. Low Usefulness of Potassium Monitoring Among Healthy Young Women Taking Spironolactone for Acne. JAMA Dermatol. 2015 Sep;151(9):941-4.
6 Thiede RM, Rastogi S, Nardone B, et al. Hyperkalemia in women with acne exposed to oral spironolactone: A retrospective study from the RADAR (Research on Adverse Drug Events and Reports) program. Int J Womens Dermatol. 2019 Apr 25;5(3):155-157.
7 Therianou A, Vincenzi C, Tosti A. How safe is prescribing oral minoxidil in patients allergic to topical minoxidil? J Am Acad Dermatol. 2022 Feb;86(2):429-431.
8 Stute P, Eversheim H, Ortius-Lechner D, May M, Feig C. Care reality of menopausal women in Germany: healthcare research using quantitative (SHI claims data) and qualitative (survey) data collection. Arch Gynecol Obstet. 2022 Aug;306(2):513-521.
9 Piraccini BM, Blume-Peytavi U, Scarci F, et al. Topical Finasteride Study Group. Efficacy and safety of topical finasteride spray solution for male androgenetic alopecia: a phase III, randomized, controlled clinical trial. J Eur Acad Dermatol Venereol. 2022 Feb;36(2):286-294.
10 Gooren LJ, T’Sjoen G. Endocrine treatment of aging transgender people. Rev Endocr Metab Disord. 2018 Sep;19(3):253-262.