Arztpraxen und Apotheken Hand in Hand

Arztpraxen und Apotheken Hand in Hand

Coverstory
Ausgabe
2023/19
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21768
Schweiz Ärzteztg. 2023;(19):12-15

Publiziert am 10.05.2023

Interprofessionalität Apotheken stehen vor den gleichen Herausforderungen wie die Ärzteschaft: Personal- und Nachwuchsmangel bei steigendem Versorgungsbedarf. Eine interprofessionelle Doppelprofessur an der Universität Bern soll hier Abhilfe schaffen, angehende Apothekerinnen und Apotheker besser ausbilden und sie in einen Dialog mit der Ärzteschaft einbinden. Eine vielversprechende erste Bilanz.
Unsere Perspektiven ergänzen sich.» Das sagen der Hausarzt Sven Streit und die Apothekerin Alice Panchaud, die seit 2020 gemeinsam eine Professur für Grundversorgung Medizin und Pharmazie und Hausarztmedizin am Berner Institut für Hausarztmedizin (BIHAM) inne haben. Diese ist schweizweit einzigartig und Teil eines komplett bifakultären Pharmazie-Studiengangs, der Naturwissenschaften und Medizin vereint. Im Herbst 2022 schloss der erste Jahrgang den neuen Studiengang ab. Der Arzt und die Apothekerin sind von der interprofessionellen Zusammenarbeit und ihren Vorteilen überzeugt. Der wichtigste davon: Die bessere Organisation entlastet den unter Druck stehenden ambulanten Bereich.
Die Universität Bern hat wieder einen vollumfänglichen Studiengang Pharmazie mit Masterabschluss eingeführt, um dem dramatischen schweizweiten Mangel an Apothekerinnen und Apothekern zu begegnen, den die Professorin Alice Panchaud aus eigener Erfahrung kennt: «Der Mangel ist zumindest in der Westschweiz eklatant. Wir schaffen es nicht, genug Spezialisten für die Apotheken auszubilden. Viele kommen aus Frankreich, wo ebenfalls Fachkräftemangel herrscht. Der Markt ist ausgetrocknet, das hört man überall aus dem Kollegenkreis.» Ein Problem, das auch im medizinischen Bereich nur allzu bekannt ist. Das wurde der Apothekerin zu Beginn ihrer Zusammenarbeit mit Sven Streit bewusst. «Apotheker und Hausärzte stehen vor denselben Herausforderungen: Der Nachwuchs fehlt, es gibt nicht genügend junge Leute, die sich für eine Apothekenübernahme oder die Forschung im ambulanten Bereich interessieren.» Ähnliche Probleme, die die Grundlage für gemeinsame Lösungen bilden.
Hausarzt Sven Streit und die Apothekerin Alice Panchaud sind von der interprofessionellen Zusammenarbeit und ihren Vorteilen überzeugt.
© Frederike Asael

Mehr klinische Aufgaben übernehmen

Der stark klinisch und interprofessionell ausgerichtete neue Master in Pharmazie bildet einen Ausgangspunkt dafür. Ziel ist es, Fachpersonen auszubilden, die aktuellen und zukünftigen Herausforderungen im Gesundheitswesen, gerade auch im ambulanten Bereich, gewachsen sind. Die Absolventinnen und Absolventen sind in der Lage, mehr klinische Aufgaben zu übernehmen, sich aktiv mit anderen Gesundheitsberufen, insbesondere der Ärzteschaft, auszutauschen und die Patientinnen und Patienten umfassend über ihre Medikamente zu informieren. Der Beruf des Apothekers hat sich im Laufe der Geschichte stark gewandelt, so Alice Panchaud: «Zuerst bereitete er Medikamente selbst zu, dann gab er von der Industrie entwickelte Produkte ab. Heutzutage steht der Verkauf im Vordergrund, doch die Information wird zum Kerngeschäft. Man muss die Patienten bei der Einnahme von Medikamenten begleiten können, und das erfordert den Austausch und die Zusammenarbeit mit den anderen Berufsgruppen.»
Gleichzeitig haben im ambulanten Bereich die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte weniger Sprechzeit für ihre Patientinnen und Patienten. «Der Arzt kann bestimmte Aufgaben an die Apotheke delegieren, um sich auf anderes zu konzentrieren. Das ist meines Erachtens der springende Punkt. Die Aufgaben den jeweiligen Kompetenzen entsprechend zu verteilen, liegt im beidseitigen Interesse», so Alice Panchaud.
Sven Streit stimmt dem zu: «Auf politischer Ebene hat sich in den letzten Jahren viel getan, damit bislang ärztliche Aufgaben wie Impfen, Blutdruckmessung, Triage oder Beratung auch in der Apotheke durchgeführt werden können.» Der Facharzt für Allgemeine Innere Medizin sieht darin eine Lösung, um dem zunehmenden Hausärztemangel entgegenzuwirken.
Das interprofessionelle Team des Berner Masters hat ein klares Ziel: «Wir bilden klinische Apothekerinnen und Apotheker aus, die bei der Behandlung der Patienten mitdenken.»

Kommunikation ist Trumpf

Wie arbeitet das Team in diesem Master? Unter der Leitung von Alice Panchaud und Sven Streit unterrichtet ein gemischtes Team aus Apothekern und Ärztinnen Interprofessionalität, forscht auf diesem Gebiet und begleitet Masterarbeiten, die in die Zuständigkeit beider Fakultäten fallen. In enger Zusammenarbeit mit der Studiengangsleiterin Prof. Verena Schröder und Partnern wie dem Institut für Medizinische Lehre (IML) und vielen weiteren führt das Team den Grossteil der Lehrveranstaltungen im Master durch. «Wir koordinieren über 400 Kursstunden. Wir bereiten diese Stunden interprofessionell vor und unterrichten sie mit einem interprofessionellen Ansatz», erklärt Sven Streit. Beispiel: Die Blutdruckmessung wird in Anwesenheit eines Arztes und einer Apothekerin oder sogar einer Spezialistin oder eines Spezialisten unterrichtet. Diese erklären jeweils, welchen Blutdruck sie behandeln können, welche Aufgaben sie delegieren müssen, welche Rolle sie innerhalb der Versorgung spielen, wie die einzelnen Berufsstände dabei interagieren und wie sie mit den Patientinnen und Patienten kommunizieren.
«Interprofessionalität ist in erster Linie Kommunikation. Um miteinander kommunizieren und arbeiten zu können, muss man verstehen, was die anderen tun. Wir brauchen eine gemeinsame Sprache», sagt Alice Panchaud. Das setzt voraus, dass man teilweise über dieselben Kenntnisse verfügt. Deshalb befasst sich der Master mit medizinischen Aspekten wie Pathophysiologie und Diagnostik.
Warum sind diese klinischen Ansätze so wichtig? Alice Panchaud nennt ein alltägliches Beispiel: « Wenn jemand in die Apotheke kommt, um ein Medikament abzuholen, kann es vorkommen, dass das Produkt für diese Person nicht optimal ist oder sie andere Medikamente einnimmt, mit denen es unter Umständen zu gefährlichen Wechselwirkungen kommen kann. In diesen Fällen muss der Apotheker dies dem verschreibenden Arzt mitteilen. Wenn der Arzt ihm von einer Diagnose erzählt und der Apotheker nichts davon versteht, kann er sein Fachwissen nicht einbringen, und der Austausch bricht ab.» Solche Situationen gibt es gemäss der Professorin relativ häufig.

Mehrwert für Studierende und Dozierende

Der klinische Fokus wird sehr geschätzt. «Die Studierenden sind begeistert», bestätigt Alice Panchaud. Der gesamte Jahrgang hat übrigens die eidgenössische Prüfung bestanden, die für alle Schweizer Fakultäten gleich ist. «Das zeigt, dass unsere interprofessionell ausgerichteten Kurse den Erwerb des eidgenössischen Diploms in keiner Weise beeinträchtigen. Wir konnten das Programm abdecken und es gleichzeitig auf Interprofessionalität fokussieren. Das ist sehr erfreulich und ermutigend für die kommenden Jahrgänge.»
Die beiden Dozierenden waren beeindruckt von den Fortschritten der angehenden Apothekerinnen und Apotheker in den zwei Jahren, besonders in puncto Kommunikation. Eine der mündlichen Prüfungen bestand in der Simulation einer realen Situation. Beurteilt wurden dabei die Kommunikation mit dem Patienten, die Überprüfung der Angemessenheit des Medikaments, die Durchführung einer Triage und die Abstimmung mit anderen medizinischen Fachkräften wie etwa Ärzten.
Auch für die Lehrenden ist die interprofessionelle Doppelprofessur eine Bereicherung. «Ich verstehe viel besser, was die andere Berufsgruppe macht und vor welchen Herausforderungen sie steht. Je besser man weiss, was der andere tut, desto einfacher ist es, eine Zusammenarbeit ins Auge zu fassen», ist Sven Streit überzeugt. Als er Apothekerinnen und Apotheker über die Schulter schaute, machte es bei ihm klick. «Mir wurde klar, dass man sich sehr viel über Medikamente austauschen und voneinander lernen kann – unsere unterschiedlichen Perspektiven ergänzen sich. Die Apothekerin ist Spezialistin für das Medikament, seine Darreichungsform, Dosierung, Verabreichung, Wirkung und Wechselwirkungen. Ich als Arzt weiss, warum das Medikament verschrieben wurde, kenne die Geschichte des Patienten und seine Vorerkrankungen und verstehe, wie sich Krankheiten gegenseitig beeinflussen und wie sich Nebenwirkungen von Medikamenten äussern. Ich kenne jedoch nicht das gesamte Spektrum möglicher Interaktionen.»
Der Hausarzt erzählt von einem Fall, den er mithilfe der Apothekerin lösen konnte. Es handelte sich um einen Patienten mit Antidepressiva, der ein Antikoagulans benötigte. Die Apothekerin machte Sven Streit auf eine Wechselwirkung zwischen den beiden Produkten aufmerksam. Es musste daher eine therapeutische Lösung gefunden werden, die all diese verschiedenen Elemente berücksichtigt. Ohne einen Austausch zwischen dem Arzt, dem Spezialisten und der Apothekerin hätten die Folgen für den Patienten schwerwiegend sein können.

Zusammenarbeit statt Konkurrenz

Alice Panchaud erklärt, wie stark die Apothekerinnen und Apotheker derzeit auf die Informationen der Hausärzteschaft angewiesen sind, um Patientenfragen beantworten und ihre fachliche Kompetenz einbringen zu können: «Der Apotheker stochert gewissermassen im Nebel. Das wird so lange der Fall sein, bis das elektronische Dossier vorliegt. Das Einzige, was ihm zur Verfügung steht, ist eine Medikamentenliste des Patienten, und auch das nur, wenn dieser immer zu ihm kommt.» Oft bestehen daher Informationslücken.
Eine verstärkte und bessere Zusammenarbeit der beteiligten Berufsgruppen wäre ein Schritt hin zu einer besseren Organisation und Koordination des ambulanten Bereichs, darin sind sich die beiden einig. «Damit die Apotheken ihrer Rolle als erste Anlaufstelle im Gesundheitssystem gerecht werden können, müssen sie besser mit dem Rest des Netzwerks verbunden sein, also in erster Linie mit den Hausärztinnen und Hausärzten», meint Alice Panchaud. Und sie betont: «Man konkurriert nicht miteinander, sondern unterstützt sich gegenseitig, wobei die Rollen klar definiert sind. Ziel ist es, zusammenzuarbeiten und den langfristigen Nutzen davon aufzuzeigen.» Sven Streit stimmt zu: «Wir sind auf Augenhöhe.»
Letztlich brächte dies eine Entlastung der am Limit agierenden Gesundheitsstrukturen sowie der immer rarer werdenden Angehörigen der beiden Gesundheitsberufe. Sven Streit hat zum Beispiel seine Sprechstunde neu organisiert, indem er apothekenspezifische Aspekte systematischer miteinbezieht: «Ich frage den Patienten, ob er schon in der Apotheke war, was er dort erhalten hat und ob ihm das geholfen hat. Bei Blutdruckproblemen informiere ich die Betroffenen, dass sie in der Apotheke ein Messgerät mieten oder kaufen können und dort auch eine fachkundige Anleitung erhalten.»
Eine bessere Organisation bedeutet eine bessere Patientenversorgung. «Ein Apotheker-Hausarzt-Duo ist ein enormer Mehrwert für die Patientensicherheit», meint Alice Panchaud. Informationen auszutauschen und miteinander zu besprechen, ob ein Medikament indiziert ist, trägt dazu bei, die Verantwortung auf mehrere Schultern zu verteilen und die therapeutische Sicherheit zu erhöhen.

Die Praxis hinkt hinterher

Gleichwohl existiert diese Kooperation in der Praxis noch nicht. «Wir lehren Interprofessionalität, um ihre Relevanz zu belegen, aber auch, um eine neue Kultur zu schaffen. Denn diese entsteht nicht von selbst. Die Absolvierenden vom letzten Herbst sind die Botschafter dieses Kulturwandels», sind sich beide einig. Die jungen Apothekerinnen und Apotheker haben damit allerdings zuweilen Mühe. «Ihr Wunsch, das Gelernte anzuwenden, lässt sich noch nicht unbedingt mit der Praxis vereinbaren – dort geht es nur langsam voran. Das kann bisweilen frustrierend sein», sagt Alice Panchaud.
Gestärkt wird die Kultur auch durch gemeinsame Forschungsprojekte. So führt das Team eine Studie zur interprofessionellen Betreuung von Bluthochdruck-Patientinnen und -Patienten durch, um festzustellen, ob jene von diesem Ansatz profitieren. «Die Doppelprofessur gestattet uns, klinische Studien durchzuführen, die den Nutzen der berufsübergreifenden Zusammenarbeit belegen», erklärt Sven Streit.
Langfristig sollen weitere Gesundheitsberufe eingebunden werden. «Wir streben gemeinsame Kurse für Physiotherapeuten, Apotheker, Ärzte und Pflegekräfte an. Denkbar wären auch interprofessionelle Wochen innerhalb einer Ausbildung», so Streit weiter. Die beiden Lehrenden plädieren für einen verstärkten berufsgruppenübergreifenden Dialog und hoffen, dass dieser Master den Grundstein dafür legt. «Interprofessionalität ist nicht nur gut für die Patientinnen und Patienten, sondern auch für die Leistungserbringer. Zahlreiche Studien belegen, dass sich damit die Mitarbeiterzufriedenheit erhöht.»

Interprofessionelle Doppelprofessur an der Universität Bern

Die 2020 gegründete interprofessionelle Doppelprofessur für Pharmazie und Hausarztmedizin am Berner Institut für Hausarztmedizin (BIHAM) wird von der Apothekerin Prof. Dr. phil. Alice Panchaud und dem Hausarzt Prof. Dr. med. Sven Streit geleitet. Er ist dem Masterstudium Pharmazie unter Leitung von Frau Prof. Verena Schröder zugeordnet, das in den 1990er Jahren weggefallen war und 2020 wieder eingeführt wurde, um dem Mangel an Apothekerinnen und Apothekern in der Schweiz zu begegnen. Die Universität Bern zieht damit gleich mit Basel, Genf und Zürich, wo ebenfalls ein kompletter Studiengang Pharmazie angeboten wird. Das Besondere am Berner Studiengang ist, dass er Naturwissenschaften und Medizin vereint. Im Bachelorstudium erwerben die Studierenden eine naturwissenschaftliche, biomedizinische und pharmazeutische Basis. Der Master besteht aus einer patientenzentrierten, interprofessionell ausgerichteten klinischen Ausbildung an der medizinischen Fakultät, die auf die eidgenössische Prüfung in Pharmazie vorbereitet. Die interprofessionelle Doppelprofessur leitet ein 27-köpfiges Team, darunter 11 Lehrende und 13 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Medizin und Pharmazie. Er koordiniert 400 Kursstunden. Im Herbst 2022 schlossen 22 angehende Apothekerinnen und Apotheker den neuen Studiengang mit dem eidgenössischen Diplom ab. Der nächste Jahrgang umfasst 34 Studierende.