Qualitätsgesetzgebung: Wie kommen wir aus der Sackgasse?

Organisationen
Ausgabe
2023/40
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.22038
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(40):30-32

Affiliations
a PD Dr. med., Spital Zollikerberg, Klinik für Innere Medizin / Interdisziplinäre Notfallstation und Qualitätskommission SGAIM; b M.A., EQUAM Stiftung; c Dr. med., Präsident mfe Haus- und Kinderärzte Schweiz; d Dr. med., Co-Präsidentin SGAIM; e Prof. Dr. med., Präsidentin Qualitätskommission SGAIM

Publiziert am 04.10.2023

Regulation Das «Qualitätsgesetz» sollte den Weg für eine systematische Qualitätsarbeit im Schweizer Gesundheitssystem ebnen. Doch die Umsetzung steckt fest – unter anderem wegen tiefem Misstrauen zwischen allen Beteiligten. Jetzt sind intelligente Lösungen und ein neues Vertrauen zwischen Politik, Verwaltung und Gesundheitswesen gefragt.
Die Revision von Artikel 58a des Krankenversicherungsgesetzes (KVG) schuf im April 2021 die gesetzliche Grundlage für eine systematische und strukturierte Verbesserung der Qualität medizinischer Leistungen. Die Revision hat damit ein grosses Potenzial, das Schweizer Gesundheitswesen umzugestalten. Optimalerweise führt dies weg von einem Mengenanreizsystem, hin zu systematisch erbrachter, wirksamer, zweckmässiger, fair verteilter Medizin.
Das Gesetz sieht vor, dass die wichtigsten Akteure des Gesundheitswesens, Leistungserbringer und Versicherer gemeinsam national geltende Qualitätsverträge abschliessen. Diese haben sich an den Qualitätszielen des Bundesrates zu orientieren. Für den Fall, dass sich die Akteure nicht auf Qualitätsverträge einigen können, tritt der «grosse Bruder» auf den Plan: «… so legt der Bundesrat die Regeln [für Qualitätsmessungen, Massnahmen zur Qualitätsentwicklung, Zusammenarbeit der Vertragspartner bei der Festlegung von Verbesserungsmassnahmen, Überprüfung der Einhaltung von Verbesserungsmassnahmen, Veröffentlichung von Qualitätsmessungen und der Verbesserungsmassnahmen, Sanktionen bei Verletzungen des Vertrages und Vorlegen eines Jahresberichts über den Stand der Qualitätsentwicklung] fest» (KVG Artikel 58a Absatz 5).
Das «Qualitätsgesetz» steckt in einer Sackgasse. Dabei sollte es neue Wege ebnen.
© Angelo Cordeschi / Dreamstime

Systemwandel ist möglich

So weit, so gut. Die Leistungserbringer und Versicherer haben viel Arbeit geleistet. Die Verbände der Leistungserbringer (H+, FMH/SAQM, Verbände aus Psychologie, Ergotherapie, Physiotherapie, Pflege und viele mehr) haben mit den Fachverbänden und Versicherungen entsprechende Konzepte und Verträge ausgearbeitet. Das Ziel ist es, auf bereits bestehenden Initiativen aufzubauen und die Energie und Motivation der Ärzteschaft, die bereits sehr aktiv ist in der Qualitätsentwicklung, einzubinden.
Durch Qualitätsverbesserungsmassnahmen, die in einem strukturierten Qualitätsverbesserungszyklus eingebettet sind, könnte ein Systemwechsel von Mengenanreizen hin zur Qualitätsverbesserung gelingen. Die kontinuierliche Qualitätsentwicklung soll es erlauben, in systematischen Zyklen die Qualität der Behandlung der Patientinnen und Patienten zu verbessern. Gleichzeitig soll die Kultur und Zusammenarbeit von Leistungserbringern und -trägern positiv beeinflusst und Vertrauen geschaffen werden.
Dass ein Systemwandel so erreicht werden kann, zeigt beispielsweise die Provinz Ontario in Kanada eindrücklich (siehe Kasten). Allerdings hat der Bundesrat für die Verbände der Leistungserbringer überraschend und unerwartet im März 2022 festgehalten, dass «eine zusätzliche Finanzierung von Qualitätsmassnahmen […] nicht vorgesehen ist». Gemäss der bundesrätlichen Strategie ist die Qualitätsentwicklung somit bereits Teil der durch die Obligatorische Krankenpflegeversicherung vergüteten Leistungen. Dies hatte für die Verträge der praxisambulanten Leitungserbringer zur Folge, dass die weiter fortgeschrittenen Verhandlungen brüsk unterbrochen wurden. Der Qualitätsvertrag für den Spitalbereich wurden seitens der Vertragspartner eingereicht, muss aber aufgrund der Rückmeldung der Verwaltung überarbeitet werden. Seither herrscht Stillstand. Ohne Einbezug der Ärzteschaft hat das Bundesamt für Gesundheit (BAG) im Dezember 2022 Erläuterungen zum Artikel 58a des KVG publiziert [1]. Darin schreiben die Autoren: «Die Qualitätsmessung soll den Stand der Qualität auf nationaler Ebene (Meso) überwachen und monitoren.» Weiter wird ersichtlich, in welchem Detailierungsgrad das BAG sich diese Daten wünscht: «Die Granularität der Veröffentlichung soll ermöglichen, das Qualitätsniveau jedes einzelnen Leistungserbringers zu beurteilen.» Zentral ist jedoch, dass die Granularität der Veröffentlichung von den Vertragspartnern in sinnbildender Weise festgelegt wird.

Qualität statt Quantität – wie es funktionieren kann

Quality Improvement Plan in Ontario, Kanada
Die kanadische Provinz Ontario hat mit dem Quality Improvement Plan vorgelebt, wie basierend auf einem Gesetz ein strukturierter Qualitätsverbesserungsprozess implementiert und gelebt werden kann [11]. Das Ziel des Ontario Gesundheitssystems war der Wechsel von einem globalen Zahlungssystem hin zu einem primär an den Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten orientierten System. Dabei werden Spitäler und andere Gesundheitseinrichtungen für die Infrastruktur, die Anzahl behandelter Personen und die Qualität der Versorgung finanziert [12].
Der Qualitätsverbesserungsplan ist ein formelles Set an Qualitäts-Verbindlichkeiten. Diese Verbindlichkeiten beinhalten Ziele und Aktionen zur Verbesserung der Qualität in der Gesundheitsversorgung und sind mit den Prioritäten des Gesundheitssystems abgestimmt.
Rollenverteilung:
Makro-Ebene: Das Gesundheitsministerium definiert die übergeordnete Vision und Richtung der Prioritäten.
Meso-Ebene (beispielsweise Fachgesellschaften): Definition der fachspezifischen Anforderungen, Set der Kernindikatoren
Mikro-Ebene (Leistungserbringer): Die Leistungserbringer konzentrieren sich auf den eigenen Qualitätsentwicklungsplan. Dabei werden Ressourcen gesprochen, damit diese Ziele erreicht werden können.
Der Qualitätsverbesserungsplan wird in einem schrittweisen Prozess entwickelt [13]:
Indikatoren werden im Betrieb (zum Beispiel Spital, Praxis) definiert, um die aktuelle Situation zu erfassen und Prioritäten zu definieren.
Ein Set an Kernindikatoren soll dabei helfen, die Auswahl geeigneter Bereiche für den eigenen Betrieb zu treffen. Beispielsweise werden Indikatoren, bei denen man schon sehr gut abschneidet, nicht ausgewählt. Bei anderen Indikatoren wird ein Bedarf erkannt und es werden Qualitätsverbesserungsziele definiert.
Sind die Bereiche, bei denen eine Qualitätsverbesserung angestrebt wird, identifiziert, soll für jeden Bereich ein Ziel und die Methode/Prozess definiert werden, um dieses zu erreichen. Daraus entsteht der Quality Improvement Arbeitsplan.
Die Ziele und Prioritäten müssen den Mitarbeitenden sowie Patientinnen und Patienten kommuniziert werden. Zudem wird jährlich ein Bericht über den Fortschritt des Quality Improvement Plans erstellt.
Über ein Set von 25 Qualitätsindikatoren konnte eine teilweise substanzielle Verbesserung der Wirksamkeit des Gesundheitsplans erzielt werden (Tabelle 1 [14]).
Erfolgsfaktoren: Aus der Erfahrung von15 Jahren Implementation von Qualitätsverbesserungen wurden folgende Erfolgsfaktoren identifiziert:
Motivieren zur Qualitätsverbesserung durch Aufmerksamkeit und Wettbewerb
Ermöglichen von Qualitätsverbesserung durch Daten
Unterstützen von Qualitätsverbesserungen durch klinische Führerschaft und Engagement
Tabelle 1: Quality Improvement Plan Ontario/Kanada: Beispiele von Indikatoren und deren Verbesserung seit der Implementierung des Gesundheitsplans für Tumorbehandlung
Indikator2017/18 verglichen mit 2014/15
Wartezeiten < 14 Tage für Bestrahlung +27,5%
Anteil der Patienten, die innerhalb eines vordefinierten Zeitrahmens zwischen Behandlungsentscheid und chirurgischer Behandlung behandelt wurden (vordefiniert je nach Tumor und Operation)+32,8%
Anteil Patienten, die innerhalb von 14 Tagen von der Zuweisung bis zur Chemotherapie gesehen wurden+14,2%
Compliance mit Qualitätsstandards bei verschiedenen TumorartenZunahme von 2,5–20,9%
Anteil Adhärenz zu multidisziplinären Tumorboards+9,3%

Misstrauen hier, falsches Vertrauen da

Mit anderen Worten, es entsteht der Eindruck, dass der Bund auf nationaler Ebene mit dem Begriff «Leistungserbringer» Spitalgruppen (stationär mit mehreren hundert Ärztinnen und Ärzten) gleichsetzt mit ambulanten Praxen, die eine im Vergleich granularere Struktur aufweisen. Somit würde in der ambulanten Praxis jede Ärztin und jeder Arzt anhand von Indikatoren überprüft werden und diese Daten würden auch publiziert. Der Bund sieht in der Messung von Indikatoren das Mittel, wie er die Qualität überprüfen und kontrollieren kann. Dies ist Ausdruck eines tiefen Misstrauens gegenüber der Ärzteschaft und eines etwas naiv anmutenden Vertrauens in die Messbarkeit von Qualität.
In den publizierten Erläuterungen heisst es weiter: «Die Vertragspartner legen die Kriterien für Leistungserbringer fest, die die Anforderungen nicht erfüllen oder die Ziele noch nicht erreicht haben. Sie legen die Kriterien für die Anzeige von Leistungserbringern beim Schiedsgericht fest. Idealerweise sollte ein Verfahren zur Anzeige bei den Kantonen vorgesehen werden.»
Es spricht der Irrtum, dass es ein umschriebenes, absolutes, unverrückbares, objektives Mass für die Qualität medizinischer Leistungserbringung gäbe. Das Verfehlen dieser eindeutig messbaren Qualität muss sanktioniert werden, um die (implizit willkürlich und selbstverschuldet) Verfehlenden bloss auf den rechten Pfad zu führen. Die Grundidee, das Wesen der Qualitätsarbeit als einen kontinuierlichen Lern- und Verbesserungsprozess zu betrachten, wird in diesen Visionen des BAG auf diese Art weit verfehlt.
Nicht berücksichtigt wird, dass Qualität schwierig zu messen ist und das Messen von Indikatoren nur sinnvoll ist, wenn sie in einem Qualitätsverbesserungszyklus eingebettet sind, der gelebt wird [2–4]. Zudem werden zentrale Lernpunkte anderer Länder, die den Weg bereits beschritten haben, nicht berücksichtigt. Eine Studie untersuchte die Bedingungen, die für einen Erfolg von Qualitätsinitiativen erfüllt sein müssen [5]. Wichtige Faktoren waren dabei die Unterstützung (finanziell, administrativ und ideell) der Leistungserbringer, Finanzierung der Programme, (abgegoltene) Zeit und eine überzeugende Evidenz dafür, dass gewählte Qualitätsindikatorenmessungen tatsächlich Qualität verbessern.

Administrativer Leerlauf

Die Gesetzesauslegung des BAG bereitet die Grundlage für einen überdimensionierten Verwaltungsapparat mit enger Kontrolle: Es soll sichergestellt werden, dass alle Leistungserbringer innerhalb eines bestimmten Zeitraums mindestens einmal kontrolliert werden. Eine unabhängige Prüfstelle soll dies gewährleisten. Von Auditfragebogen, Vor-Ort-Audits und Peer Reviews ist die Rede. Woher die Ressourcen kommen (personell, finanziell), alle Leistungserbringer derartigen Prüfungen zu unterziehen, bleibt ausgeklammert.
Mit der ohnehin schon zunehmenden administrativen Last sowie der vollständig ungenügenden Vereinheitlichung der elektronischen Patientendossiers wird diese BAG-Vision zum Scheitern verurteilt sein. Die Darstellung von Eingriffszahlen und anderen medizinischen Handlungen, wie sie neu auf dem Swiss Health Atlas zur Verfügung gestellt werden, sind zwar für weiterführende Analysen hilfreich, aber ohne direkte klinische Wertschöpfung [6]. Grosse Cochrane-Analysen zeigten, dass die Veröffentlichung von Performance-Zahlen wenig oder keinen Einfluss auf die Auswahl des Leistungserbringers durch Patientinnen und Patienten hatte und wohl auch einen geringen Einfluss auf die Qualität der Gesundheitsversorgung [7]. Über die Wirksamkeit von externen Inspektionen auf das Verhalten von Gesundheitsversorgern und auf Outcomes gibt es laut einem systematischen Review keine klare wissenschaftliche Evidenz [8]. Fehlanreize und falsche Sicherheitsgefühle können die Folge von falsch eingesetzten Messungen sein [9]. Die datenschutzrechtlichen Dimensionen sind in diesem Zusammenhang zudem relevant und zu berücksichtigen.

Tod der intrinsischen Motivation

Der reine Gesetzestext von KVG Artikel 58a ist bereits mehr als üblich detailliert und eng formuliert. Die aktuelle Auslegung des BAG geht aber weit über das Gesetz hinaus und ist in seinen Forderungen hochproblematisch. Durch die Hintertür werden Leistungserbringer und Versicherer ihrem gesetzlichen Auftrag als Vertragsparteien enthoben und der Weg für ein zentralistisches Kontrollsystem geebnet. Dabei führt eine enge Kontrolle anhand hochgranulierter Indikatoren bei komplexen, facettenreichen Qualitätsfragen zum Tod der intrinsischen Motivation der Leistungserbringer. Zudem werden Ressourcen (die aufgrund der fehlenden Finanzierung und des bestehenden Fachkräftemangel Mangelware sind) in Bereichen gebunden, die keine Verbesserung der Qualität erbringen [10].

Wie zerschlagen wir den Knoten?

Damit eine positive Umgestaltung des Gesundheitswesens funktioniert, müssen wir einen Schritt zurückgehen und uns des Schweizer Innovationsgeistes besinnen. Grundlage für ein erfolgreiches Gelingen ist eine neue Vertrauenskultur zwischen dem Bund, den Versicherungen und den Leistungserbringern. Dazu müssen alle Stakeholder beitragen und es muss eine offene und unkomplizierte Kommunikation auf Augenhöhe erfolgen. Die Schweiz verfügt bereits über eine hervorragende Gesundheitsversorgung und viele Ärztinnen, Ärzte und Institutionen sind sehr aktiv. Bestehende und wirksame Massnahmen zur Qualitätsverbesserung sollten aufgegriffen und weiterentwickelt werden. Die intrinsische Motivation der Ärzteschaft ist es, besser werden zu wollen. Diese intrinsische Motivation muss der Motor sein, damit Qualitätsentwicklungen unterstützt und die nächsten Schritte, gemeinsam mit Versicherern und Verwaltung, sinnvoll ausgestaltet und vorangetrieben werden.
Dieser Artikel wurde konzipiert und geschrieben bevor bekannt wurde, dass der Vertreter der Ärzteschaft aus der Eidgenössischen Qualitätskommission (EQK) ausgetreten war. Die Autoren sind der Meinung, dass starke Vertreterinnen und Vertreter seitens der Ärzteschaft sich weiterhin aktiv in der EQK engagieren müssen.
sascha.hardegger[at]sgaim.ch
2 Wertli M et al. Alle sprechen über Qualitätsverbesserung – was ist konkret gemeint? Prim Hosp Care 2022;22(5):138–140
3 Qualitätskommission SGAIM. Nicht empfohlene Qualitätsindikatoren im stationären Bereich. https://www.sgaim.ch/de/qualitaet/qualitaet-im-spital/qualitaetsindikatoren
4 Wertli M et al. Qualitätsindikatoren im stationären Bereich, Schweiz Ärzteztg. 2021;102(26):877–880
5 De Vos et al. Int. J Quality in Health Care 2009
7 Metcalfe D et al. Cochrane Database of Systematic Reviews 2018
8 Flodgren G et al. Cochrane Database of Systematic Reviews 2016
9 Steurer J. «Als würde man die Wassertemperatur mit dem Meterstab messen». Schweiz Ärzteztg. 2022;103(48):18–21
10 Binswanger M. Sinnlose Wettbewerbe – Warum wir immer mehr Unsinn produzieren. Herder 2016
11 Patients First: Action Plan for Health Care https://www.health.gov.on.ca/en/ms/ecfa/healthy_change/
12 What are the benefits of Health System Funding Reform? https://www.health.gov.on.ca/en/pro/programs/ecfa/funding/hs_funding.aspx#2
13 Quality Improvement Plan (QIP) Guidance Document for Ontario’s Health Care Organizations https://www.health.gov.on.ca/en/pro/programs/ecfa/legislation/qualityimprove/qip_guide.pdf
14 Hagens V. From Measurement to Improvement in Ontario’s Cancer System: Analyzing the Performance of 28 Provincial Indicators over 15 Years. Healthcare Quarterly Vol. 23 No.1 2020