Im kalten Wasser schwimmen lernen

Im kalten Wasser schwimmen lernen

Hintergrund
Ausgabe
2024/11
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2024.1326828421
Schweiz Ärzteztg. 2024;105(11):12-15

Publiziert am 13.03.2024

Berufseinstieg
Nicht nur Wissen büffeln, sondern auch gleich praktisch anwenden – dieser neue Ansatz zeigt im Medizinstudium erste Früchte. Trotzdem fühlen sich immer noch viele angehende Ärztinnen und Ärzte ungenügend auf den Berufsalltag vorbereitet. Woran hapert es?
«Ich arbeite extrem gern.» Das sagt Kate Gurevich, seit einem guten Jahr Assistenzärztin am Bürgerspital Solothurn. Als Tochter von Ärzte-Eltern war sie keineswegs naiv in den Beruf eingestiegen. «Mir war bewusst, dass man als Ärztin viel arbeiten muss», sagt die 27-Jährige. In ihrem ersten Jahr in der Chirurgie waren es häufig 12 bis 14 Stunden pro Tag. «Ich begann um sechs Uhr morgens und wenn ich um sieben Uhr abends zum Haus rauskam, war das ein guter Tag.»
Weil sie nicht zu jenen gehört, die mit wenig Schlaf auskommen, steckt die junge Ärztin in ihrem Privatleben zurück. Sport treibt sie meist zuhause, weil das weniger Zeit braucht, als in einen Verein oder ein Fitnesscenter zu gehen. Trotzdem stosse sie energiemässig oft an ihre Grenzen und fühle sich überfordert, erzählt Gurevich. Und damit sei sie keineswegs allein. Bei Arbeitskolleginnen und -kollegen hat sie Burnouts erlebt und einige Mitstudierende seien nach dem Wahlstudienjahr so schockiert vom ärztlichen Berufsalltag gewesen, dass sie sich nicht vorstellen könnten, längerfristig klinisch zu arbeiten.
Am meisten frustriert Kate Gurevich die teilweise mangelnde Wertschätzung. «Selbst wenn ich glaubte, gründliche Arbeit geleistet zu haben, gab es oft noch etwas zu kritisieren. Meist bei den Berichten.» Dabei setze sie ihre Prioritäten halt lieber bei der Sicherheit der Patientinnen und Patienten und bei ihrer Ausbildung. Nach vier bis fünf Stunden am Computer lasse sie bei der Schreibarbeit auch mal eine Fünf gerade sein.

Ein Drittel zweifelt am Berufswunsch

Zahlreichen angehenden Ärztinnen und Ärzten ergeht es ähnlich wie Kate Gurevich. Manchen war zudem bei der Studienwahl nicht ausreichend bewusst, was auf sie zukommen würde. Die oft nicht eingehaltene Maximalarbeitszeit von 50 Wochenstunden, die ausufernde Bürokratie und strukturelle Ineffizienz, die wenig fortgeschrittene Digitalisierung – all das sind erkannte, aber ungelöste Probleme, die zu viel Unzufriedenheit führen.
Zu entsprechenden Ergebnissen kam auch eine Befragung des Verbands der Schweizer Medizinstudierenden (swimsa) unter 2300 Medizinstudierenden im Oktober 2023 [1]. Ein Drittel davon gab an, das Wahlstudienjahr habe sie am Berufswunsch zweifeln lassen. Besonders gross ist die Ernüchterung unter den Frauen, die zwei Drittel der Studierenden ausmachen. Der Grossteil der Befragten äusserte zudem die Absicht, nach der Facharztausbildung keine Vollzeitstelle anzutreten. Angesichts der bis zum Berufseintritt bereits erfolgten Leistungen – von der Vorbereitung auf den Eignungstest bis zu sechs intensiven Studienjahren – muss dieses Ergebnis erschrecken.

Medizinische Fakultäten haben die Praxis- und Kompetenzorientierung verstärkt, um die Absolvierenden besser auf den Beruf vorzubereiten.

Wie die Umfrage ebenfalls zeigt, haben sich viele aus idealistischen Gründen für den Beruf entschieden: Sie wünschen sich einen sinnvollen Job, der mit Menschen zu tun hat. Ein hoher Verdienst und Gesellschaftsstatus waren bei der Studienwahl zweitrangig. Doch den meisten jungen Menschen sei heute auch eine einigermassen akzeptable Work-Life-Balance wichtig, sagt swimsa-Präsidentin Valeria Scheiwiller. «Angehende Medizinerinnen und Mediziner sind keineswegs faul oder unmotiviert», betont sie. Jedoch seien sie weniger als frühere Generationen bereit, wegen Ineffizienz im Gesundheitswesen, mangelnder Digitalisierung sowie administrativer Tätigkeiten Überzeit zu leisten. Scheiwiller, die selbst das letzte Studienjahr an der Universität Lugano absolviert, fordert deshalb die Einhaltung des Arbeitsgesetzes, den Zugang zu strukturierter Weiterbildung in allen Fachrichtungen sowie mehr Wertschätzung durch Arbeitskolleginnen und Vorgesetzte. Weiter brauche es eine Harmonisierung der klinischen Informationssysteme, flexible Arbeitsmodelle sowie längerfristig eine Reduktion der Wochenarbeitszeit.

Im ersten Semester beim Hausarzt

Kate Gurevich hat sich aufgrund von Gesprächen mit Bekannten für das Studium an der Universität Bern entschieden, weil diese ein praxisnäheres Medizinstudium bietet als etwa die Universität Zürich. Eine Vergleichsstudie der swimsa von 2022 bestätigt diese Einschätzung [2]. Die Studierenden der Universität Bern konnten von Beginn weg in den Alltag einer Hausarztpraxis hineinschauen und mit der Zeit unter Aufsicht selbst Anamnesen und Untersuchungen durchführen. Das sei besonders in den theorielastigen ersten Semestern sehr bereichernd gewesen, blickt die Baslerin zurück. «Zu sehen, wohin das Studium führt, hat mich motiviert.»
Auch andere medizinische Fakultäten haben in den letzten Jahren die Praxis- und Kompetenzorientierung verstärkt, um ihre Absolvierenden besser auf die beruflichen Herausforderungen vorzubereiten. Im Rahmen des Lernzielkatalogs PROFILES (Principal Relevant Objectives Framework Integrated Learning Education Switzerland), der seit 2017 für alle medizinischen Fakultäten in der Schweiz gilt, soll das klinische Denken und Handeln gegenüber der Wissensvermittlung gestärkt werden.

Reflektieren in Gruppen

Die Universitäten Zürich und Luzern zum Beispiel haben Anfang dieses Jahres ein Pilotprojekt für eine Lernbegleitung gestartet. Unter Leitung von Dozierenden treffen sich jahrgangsdurchmischte Gruppen, um ihre Lernstrategien und –fortschritte zu reflektieren und gegebenenfalls anzupassen. In den Gesprächen könne es etwa um das Erlernen von fachlichen Kompetenzen wie etwa dem Führen eines Anamnesegesprächs gehen, aber gerade so gut auch um persönliche Motivation und andere Soft Skills, erläutert Projektleiterin Dr. med. Anna Brunello. In einem geschützten Übungsfeld sollen die Teilnehmenden auch lernen, sich gegenseitig zuzuhören, eine positive Feedbackkultur zu entwickeln und ihre Resilienz für schwierige Situationen zu stärken. «So wollen wir das Gefühl der Selbstwirksamkeit fördern und langfristig Dropouts vermeiden», erklärt Brunello.

Wie gut passen Karriere und Privatleben zusammen? Diese Frage sollten sich angehende Ärztinnen und Ärzte stellen.

Dass sich die Universitäten in den letzten Jahren bemüht haben, der praktischen Anwendung des Gelernten mehr Gewicht zu verleihen, trage bereits Früchte, stellt die Leitende Ärztin Intensivmedizin am Kantonsspital Graubünden fest: «Es ist toll, dass sich heutige Assistenzärztinnen und -ärzte stärker mit den vielen Aspekten des Arztseins auseinandersetzen und ihnen auch Selbstkritik nicht fremd ist.»

Lebensziele früher überlegen

Auch Prof. Dr. med. Stefan Kuster findet, die Entwicklung gehe in die richtige Richtung. Dennoch sieht der Chefarzt der Klinik für Infektiologie am Kantonsspital St. Gallen weiteren Handlungsbedarf. Er unterrichtet an der Universität Zürich in einem Pflichtkurs zum Thema ärztliche Rollen, wo es auch um Karriereplanung geht. Wie er beobachtet, wirken viele Medizinstudierende kurz vor dem Abschluss noch ziemlich hilflos, was ihre berufliche Perspektive angeht. «Angehende Ärztinnen und Ärzte müssten sich schon bei der Wahl ihres Karrierewegs bewusst sein, wie gut dieser mit den Vorstellungen zu ihrem Privatleben kompatibel ist», sagt Kuster. Während in einer Praxis oft auch Teilzeitarbeit möglich sei, komme man für eine leitende Position in einem grösseren Spital häufig nicht um eine akademische Karriere samt Auslandsaufenthalt herum, gibt er zu bedenken. «Es ist schade, wenn man nach fast zehn Jahren Aus- und Weiterbildung merkt, dass die eingeschlagene Richtung nicht zum Lebensentwurf passt.»
Wertvoll sind aus Sicht von Kuster Mentoring-Systeme, die früh in der Ausbildung greifen: «Medizinstudierende sollten früh in die Praxis schauen können.» Einige Fachgebiete mit grossem Bedarf an Nachwuchs bieten solche Formate bereits an – etwa die Chirurgie oder Notfallmedizin.

Schnuppern in Spital oder Praxis

Dr. med. Christina Venzin sieht beim Praxisbezug ebenfalls noch Luft nach oben. Die Nephrologin hält eine Schnupperlehre vor dem Studium für sinnvoll, wie sie in anderen Berufen üblich ist. Dass viele Universitäten das sogenannte «Häfelipraktikum» nicht mehr verlangen, findet sie schade, obwohl dieses Einblick in den Spitalalltag und die Arbeit der Pflege erlaubt und weniger in die ärztlichen Aufgaben. «Bei mir sind Praktikantinnen und Praktikanten willkommen», betont die Leitende Ärztin am Spital Davos. Auch eine bessere Vorbereitung auf die verschiedenen Aufgaben und Rollen im ärztlichen Umfeld hält die Leiterin des Masterstudiengangs Leading Learning Health Care Organisations an der Universität Bern für wichtig. «Angehende Ärztinnen und Ärzte müssen auch eine Ahnung von Politik und Wirtschaft haben und ein Team führen können», betont Venzin.
In diesen Bereichen fühlt sich auch Assistenzärztin Kate Gurevich noch ziemlich ins kalte Wasser geworfen. Nach einem Jahr in der Chirurgie hat die angehende Gynäkologin in die Geburtsabteilung des Bürgerspitals Solothurn gewechselt, wo sie die Atmosphäre und das Team schätzt. «Ich arbeite mit sehr guten Hebammen zusammen, die teilweise bis zu 40 Jahre Berufserfahrung haben», erzählt sie. Trotzdem trage sie als ganz junge Ärztin am Ende die Hauptverantwortung, ist ihr bewusst. Leider habe sie während des Studiums kaum etwas über interprofessionelle Zusammenarbeit gelernt, bedauert Kate Gurevich. «Ich muss mich in der neuen Rolle erst noch finden.»

Unterstützung beim Berufseinstieg

  • Der Verband Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen und –ärzte (vsao) bietet regelmässig Webinare zu Themen des klinischen Alltags an: vsao.ch/dienstleistungen/transition-to-physician
  • Das Mentoringprogramm Coach my Career bietet die Möglichkeit, vom Erfahrungsschatz von Mentorinnen und Mentoren aus verschiedenen medizinischen Fachrichtungen zu profitieren: vlss.ch/karriere/coach-my-career
  • Informationen zu möglichen Karrierewegen gibt es am Laufbahnkongress medifuture, der am 2. November in Bern stattfindet: medifuture.ch
  • Mit der ersten Assistenzarztstelle beginnt die Weiterbildung zum Erwerb eines Facharzttitels. Informationen dazu bietet das Schweizerische Institut für ärztliche Weiter- und Fortbildung: siwf.ch