Top-5-Liste Palliativmedizin

Organisationen
Ausgabe
2024/11
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2024.1384056952
Schweiz Ärzteztg. 2024;105(11):34-35

Affiliations
a Prof. Dr. med., Chefarzt Palliative Care, Universitätsspital Zürich
b Dr. med., Leitende Ärztin Palliative Care, Universitätsspital Basel
c Prof. Dr. med., Chefarzt am Universitären Zentrum für Palliative Care, Universitätsspital Inselspital Bern
d Prof. Dr. med., Chefarzt Palliative Care and Supportive Care Service, Universitätsspital Lausanne (CHUV)
e Prof. Dr. med., Chefarzt, Facharzt für Anästhesie, Palliativzentrum Hildegard, Basel
f Prof. Dr. med., Chefarzt Institute of Humanities in Medicine, Universitätsspital Lausanne (CHUV) und Universität Lausanne
g Prof. Dr. med., Chefarzt Palliative Medicine, Universitätsspital Genf (HUG)

Publiziert am 13.03.2024

Empfehlungen
smarter medicine publiziert in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Gesellschaft für Palliative Medizin eine Top-5-Liste. Getreu dem Motto «Weniger ist manchmal mehr» sind darin fünf unnötige Behandlungen sowie Abklärungsschritte aufgeführt, auf die im Gebiet der Palliativmedizin verzichtet werden kann.
Dieses Dokument wurde auf Initiative der Ärzte von palliative.ch erstellt. Eine Arbeitsgruppe umfasste sechs medizinische Experten, die die wichtigsten Palliativzentren in der Schweiz vertraten. Nach der Sichtung der wissenschaftlichen Literatur und der fachlichen Richtlinien schlugen die Mitglieder in einer ersten Runde 23 Punkte vor, die berücksichtigt werden sollten. In einer zweiten Runde erarbeitete die Gruppe 16 Empfehlungen, die sich leicht umsetzen liessen. Die Empfehlungsentwürfe wurden von den gesamten Experten geprüft und diskutiert. Eine dritte Runde wurde mit einer Gruppe von Palliativmedizinerinnen und -Medizinern durchgeführt (75 Antworten), und die Teilnehmenden wählten fünf Empfehlungen aus. Diese hat der Vorstand der palliative.ch freigegeben.
Ziel der Top-5-Liste ist es, die Kosten zu reduzieren und den Patientinnen und Patienten einen Mehrwert zu bieten.
© Ivan Soima / Dreamstime
Die fünf Empfehlungen auf einen Blick:
1. Keine Verzögerung der palliativmedizinischen Versorgung von Patientinnen und Patienten mit lebensbedrohlichen (auch nicht onkologischen) Erkrankungen, die körperliche, psychologische, soziale oder spirituelle Bedürfnisse haben, nur weil sie eine krankheitsmodifizierende oder lebensverlängernde Behandlung erhalten [1].
Zahlreiche Studien – einschliesslich randomisierter Studien und Metaanalysen – belegen, dass der frühzeitige Einbezug einer spezialisierten Palliativversorgung die Schmerz- und Symptomkontrolle verbessert, die Zufriedenheit der Angehörigen mit der Versorgung steigert und die Kosten senkt. Palliativmedizin beschleunigt den Tod nicht und kann bei ausgewählten Bevölkerungsgruppen das Leben verlängern.
2. Keine Krebstherapie bei Patientinnen und Patienten mit fortgeschrittener/metastasierter Erkrankung beginnen, ohne gemeinsam mit der Patientin oder dem Patienten die Ziele / die funktionellen Vorteile der Behandlung zu definieren und die Unterstützung durch die Palliativmedizin zu berücksichtigen [2].
Viele Patientinnen und Patienten verstehen die Ziele der Krebsbehandlung nicht vollständig – sie gehen davon aus, dass die Behandlung kurativ sein könnte, obwohl sie in Wirklichkeit nur palliativ ausgerichtet ist. Sie sind sich häufig nicht im Klaren über die Kosten, Risiken und potenziellen Nebenwirkungen der Behandlung.
Das Modell der «gleichzeitigen Behandlung», d.h. der Einsatz einer krankheitsspezifischen Behandlung zusammen mit der palliativen, ist in solchen Situationen dringend empfohlen. Eine palliative Therapie kann Symptome lindern oder das Überleben kurzzeitig verlängern, hat aber oft erhebliche toxische Nebenwirkungen und kann die Lebensqualität der Patientin oder des Patienten beeinträchtigen. Eine begleitende Palliativbehandlung kann der Patientin oder dem Patienten in dieser Zeit helfen.
3. Bei Patientinnen und Patienten mit fortgeschrittener progressiver Krankheit oder Krebs, die unterernährt sind, nicht routinemässig eine künstliche Ernährung einführen [3].
Patientinnen und Patienten mit fortgeschrittener progressiver Erkrankung sind erst dann Ernährungsmassnahmen (künstliche Ernährung) anzubieten, wenn gemeinsam mit ihnen die Prognose der Krankheit, die zu erwartenden Vorteile in Bezug auf die Lebensqualität und das mögliche Überleben sowie auch die mit der Ernährungstherapie verbundene Belastung besprochen wurden. Die Nahrungsaufnahme sollte vielmehr vom Genuss, vom Geschmack und vom Wohlbefinden der Patientinnen und Patienten abhängen. Patientinnen und Patienten wie auch deren Angehörige sollten darüber aufgeklärt werden, dass eine Nahrungsaufnahme gegen die Anorexie der Patientin oder des Patienten das Wohlbefinden beeinträchtigen und das Leben nicht verlängern kann, ausser beispielsweise bei Patientinnen und Patienten mit atrophischer Lateralsklerose.
Für die meisten sterbenden Patientinnen und Patienten ist es unwahrscheinlich, dass eine künstliche Ernährung von Vorteil ist.
4. Keine Erythrozytenkonzentrate auf der Grundlage willkürlicher Hämoglobin- oder Hämatokrit-Grenzwerte transfundieren, wenn keine Symptome vorliegen oder wenn bei früheren Transfusionen kein klinischer Nutzen erkennbar war [4].
Die Indikationen für Bluttransfusionen hängen von der klinischen Beurteilung ab und richten sich auch nach der Ätiologie der Anämie. Kein Laborwert und kein physiologischer Parameter allein kann die Notwendigkeit einer Bluttransfusion vorhersagen. Bluttransfusionen sind bei stationären Hochrisikopatientinnen und -patienten mit einer erhöhten Morbidität und Mortalität verbunden. Das Spektrum der unerwünschten Nebenwirkungen reicht von leichten bis zu schweren, darunter allergischen Reaktionen, von akuten hämolytischen Reaktionen, Anaphylaxie, akuten transfusionsbedingten Lungenschäden bis zu Kreislaufüberlastung und Sepsis.
5. Gespräche über Prognose, Wünsche, Werte und die Gestaltung des Lebensendes (einschliesslich des Advance Care Planning) bei Patientinnen und Patienten mit fortgeschrittener Krankheit nicht hinauszögern [5].
Die Vorausplanung betreffend die Gesundheit ist ein strukturierter Kommunikationsprozess, der die Wahl einer vertretungsberechtigten Person sowie die Festlegung und Kommunikation von Werten und Wünschen in Bezug auf die medizinische Versorgung umfasst. Dadurch wird eine Person darauf vorbereitet, situative medizinische Entscheidungen zu treffen, und die vertretungsberechtigte Person wird angeleitet, falls die betroffene Person ihre Entscheidungsfähigkeit verlieren sollte.
Eine gesundheitliche Vorausplanung (Advance Care Planning) ist besonders für Patientinnen und Patienten mit schweren, lebensbedrohlichen Krankheiten sowie für ihre Familien und medizinischen Betreuungspersonen wichtig. Sie sollte frühzeitig und wiederholt (wenn sich die Umstände ändern) durchgeführt und von einer speziell ausgebildeten Fachkraft begleitet werden. Es ist erwiesen, dass Gespräche über die Vorausplanung der Behandlung von Patientinnen und Patienten, Familien und Fachpersonen gewünscht und gut angenommen werden. Die Übereinstimmung zwischen den Präferenzen der Patientinnen und Patienten und der effektiv erhaltenen Behandlung wird verbessert, die Qualität von Vorausplanungsdokumenten wird erhöht, und die Wahrscheinlichkeit, dass Betroffene unnötige stationäre Versorgung erhalten, wird verringert. Zudem wird die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sie Palliative und Hospiz Care erhalten.

Über die Gesellschaft

palliative.ch ist die Schweizerische Gesellschaft für Palliative Medizin, Pflege und Betreuung und vertritt die Interessen der ihr angeschlossenen Mitglieder: 3062 Einzelmitglieder und 465 Gesundheitsinstitutionen – Spitäler, Kliniken, Spitex-Organisationen, Institutionen der Langzeitpflege und Verbände. 400 Ärztinnen und Ärzte sind Mitglieder, davon 118 mit dem interdisziplinären Schwerpunkt Palliativmedizin. Weitere Informationen unter www.palliative.ch

Zu smarter medicine

Die gemeinnützige Organisation smarter medicine setzt sich seit dem Jahr 2014 gegen eine Über- beziehungsweise Fehlbehandlung in der Schweizer Medizin ein. Um ihre Ziele zu erreichen, fördert smarter medicine die Diskussion und die Forschung zu unnötigen Behandlungen. Sie stellt Informationsmaterial zur Verfügung und gibt in sogenannten «Top-5-Listen» regelmässig Empfehlungen an das medizinische Fachpersonal sowie an Patientinnen und Patienten ab. Weitere Informationen unter www.smartermedicine.ch
sophie.pautex[at]hcuge.ch
lars.clarfeld[at]sgaim.ch
1 Quellen: American Family Medicine; American Academy of Hospice and Palliative Medicine; American Society Clinical Oncology
Evidenzlevel: systematischer Review aus 13 Studien
2 Quellen: American Academy of Hospice and Palliative Medicine; American Society Clinical Oncology
Evidenzlevel: starke Expertenempfehlung
3 Quelle: European Society for Clinical Nutrition and Metabolism
Evidenzlevel: starke Expertenempfehlung
4 Quelle: American Society of Hematology
Evidenzlevel: stark systematischer Review aus 13 Studien (11 case series, 1 prospective cohort study, 1 retrospective cohort study)
5 Quelle: Gesundheitliche Vorausplanung BAG/SAMW
Evidenzlevel: systematischer Review aus 113 Studien (95% observational)