Bundesgericht spricht Arzt vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung frei

Kernaussagen zum Arzthaftungsrecht

FMH
Ausgabe
2022/05
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20508
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(05):132-134

Affiliations
Dr. iur., Rechtsdienst der FMH

Publiziert am 01.02.2022

Die Rechtsprechung des Bundesgerichts zur ärztlichen Sorgfalt basiert auf einer jahrelangen Rechtsentwicklung. Das Arzthaftungsrecht lebt teilweise von Urteilen, welche vor mehr als 40 Jahren ergangen sind und nach wie vor gültige Rechts­praxis darstellen. Ein Überblick aus Anlass des Freispruchs eines Arztes vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung.
Lesen Sie auch den Artikel «Arzt vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen» von Marcel Lanz auf Seite 150.
Dieser Beitrag nimmt Sie mit auf eine «Tour d’horizon» zu Leiturteilen zum Arzthaftungsrecht, welche bei einem kürzlich ergangenen strafrechtlichen Leiturteil vom Oktober 2021 mündet [1]. Die ärztlichen Sorgfaltspflichten beinhalten die Lege-artis-Behandlung, die ärztliche Aufklärungspflicht und die Dokumentationspflicht.

Ärztliche Sorgfaltspflichten beschäftigen Gerichte immer wieder.

Ärztliche Aufklärungspflicht

Eines der wichtigsten bundesgerichtlichen Urteile zu den Aufklärungspflichten der Ärztin bzw. des Arztes stammt aus dem Jahre 1991. Im Zentrum der ärztlichen Aufklärungspflicht steht die Wahrnehmung des Selbstbestimmungsrechts durch die Patientin oder den Pa­tienten. Durch die ärztliche Aufklärung wird die erforderliche Entscheidungsgrundlage geschaffen, damit der Patient oder die Patientin in Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes «einen sogenannten informed consent» erteilen kann.
Davon ausgehend, dass der ärztliche Heileingriff gemäss Rechtsprechung den Tatbestand der Körperverletzung erfüllt, formulierte das Bundesgericht die Anforderungen an die ärztliche Aufklärungspflicht in diesem Grundsatzurteil wie folgt: «Ein zu Heilzwecken vorgenommener ärztlicher Eingriff in die körperliche Integrität des Patienten ist widerrechtlich, sofern nicht ein Rechtfertigungsgrund – insbesondere die Einwilligung des ausreichend aufgeklärten Patienten – vorliegt. Da die ärztliche Aufklärungspflicht sowohl dem Schutz der freien Willensbildung des Patienten wie auch dem Schutz seiner körperlichen Integrität dient, besteht im Fall ihrer Verletzung nicht nur eine Ersatzpflicht für immateriellen, sondern auch für anderen Schaden (E. 2)» [2].
Im besagten BGE 117 Ib 197 definierte das Bundesgericht den grundsätzlichen Massstab des Ausmasses der Aufklärung. Dies sei auf der einen Seite die vom Arzt oder der Ärztin gestellte Diagnose und andererseits «die nach den medizinischen Kenntnissen des damaligen Zeitpunktes mit dem Eingriff verbundenen Risiken». Unerheblich sei aber, ob die Diagnose rückblickend richtig war. Des Weiteren – so das Bundesgericht – ist der Arzt bzw. die Ärztin verpflichtet, «den Patienten über Art und Risiken der in Aussicht genommenen Behandlungsmethoden aufzuklären, es sei denn, es handle sich um alltägliche Massnahmen, die keine besondere Gefahr und keine endgültige oder länger dauernde Beeinträchtigung der körperlichen Integrität mit sich bringen». Der Patient oder die Patientin soll über den Eingriff oder die Behandlung so weit unterrichtet sein, dass er oder sie die Einwilligung in Kenntnis der Sachlage geben könne. Dennoch dürfe die Aufklärung keinen für seine oder ihre Gesundheit schädlichen Angstzustand hervorrufen.
Ebenso habe der Arzt bzw. die Ärztin «einen Patienten oder dessen gesetzlichen Vertreter dann nicht in allen Einzelheiten über die Gefahren der geplanten Operation aufzuklären, wenn auf der Hand liegt, dass diesem aufgrund früherer ähnlicher oder gleicher Operationen die einschlägigen Risiken bereits bekannt sein müssen». Ein Arzt oder eine Ärztin müsse aber bei «gewöhnlich mit grossen Risiken verbundenen Operationen, die schwerwiegende Folgen haben können, den Patienten ausführ­licher aufklären und informieren, als wenn es sich um ­einen im allgemeinen unproblematischen Eingriff handelt.»

Ärztliche Dokumentationspflicht

Im Jahr 2015 erging seitens des Bundesgerichts ein ­weiterer Leading case, welcher sich mit den Anforderungen zur ärztlichen Dokumentationspflicht befasste [3]. Demnach müsse aufgezeichnet werden, was aus medizinischer Sicht notwendig und üblich ist [4]. Die Krankengeschichte soll so abgefasst sein, dass der ­medizinische Behandlungsablauf vollständig und nachvollziehbar dokumentiert ist. Unbestritten gilt die Dokumentation der Krankengeschichte einerseits zur Therapiesicherheit und andererseits zu Beweis­sicherungszwecken.

Ärztliche Sorgfaltspflicht [5]

Im Oktober 2021 publizierte das Bundesgericht ein ­Urteil zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit eines Arztes [6]. Es ist für die amtliche Sammlung vorgesehen. Das heisst, es ist ein für die Rechtspraxis inhaltlich relevantes Urteil. Das Bundesgericht sprach darin einen Hausarzt vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung frei. Seine Patientin war aufgrund der Einnahme eines durch ihn verschriebenen Medikaments an den Folgen eines anaphylaktischen Schocks verstorben. Im Zen­trum des Verfahrens stand die Verletzung der ärzt­lichen Sorgfalt, indem dem Arzt vorgeworfen wurde, er hätte das Cefuroxim bei einer Penicillinallergie nicht verschreiben dürfen. Im gleichen Fall wurde eine Apothekerin vom Obergericht Aargau rechtskräftig im Jahr 2020 der fahrlässigen Tötung schuldig gesprochen. Sie hatte das Antibiotikum ausgehändigt, weil sie den ­Vermerk der Antibiotikaallergie im Computersystem übersehen hatte [7].
Das Bundesgericht bestätigte im vorliegenden Fall basierend auf den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz und der gutachterlichen Beurteilung, der Arzt sei den gebotenen Abklärungspflichten und seiner ärztlichen Sorgfaltspflicht insofern hinreichend nachgekommen, als er eine Erstanamnese durchgeführt habe und in einem «persönlichen Gespräch mit der Patientin insbesondere auch die Frage nach einer Antibiotika-Allergie abgeklärt und sie aufgefordert habe, frühere Krankenakten zu bringen». Die Patientin habe ihrem neuen Hausarzt einige ärztliche ­Unterlagen zur Verfügung gestellt, habe es aber unterlassen, ihm die früheren Krankenunterlagen vollständig zur Verfügung zu stellen. Als diese ausblieben, hakte er bei einer späteren Konsultation, etwa einen Monat später, nochmals nach und bat seine ­Patientin, ihm diese Unterlagen «dringend» noch nachzureichen.
Im Zentrum der Beurteilung lag, dass die Patientin anlässlich der Erstkonsultation erklärt hatte, sie werde die Berichte ihrer früheren Hausärztin noch aushändigen. Trotz mehrmaliger Aufforderung durch den Hausarzt holte die Patientin bei ihrer früheren Hausärztin nicht die Unterlagen ein bzw. übermittelte diese nicht dem Hausarzt. Inwieweit hätte der Hausarzt aktiv die früheren Unterlagen direkt bei der vorgehenden Hausärztin einholen müssen? Durfte er sich auf die Zusage seiner Patientin verlassen? Der Hausarzt hatte doch über ein Jahr lang etwa alle zwei Wochen die Patientin behandelt. Diese Häufigkeit bzw. die Anzahl der Behandlungen würde aber – so das Bundesgericht – durch die Tatsache relativiert, «dass die Blutverdünnung eine regelmässige Kontrolle des INR-Werts verlangt». Dies sei jedoch in der Regel im Rahmen einer routinemässigen Konsultation erfolgt.
Das Bundesgericht bestätigte den Freispruch des Arztes vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung mangels ­einer Verletzung der ärztlichen Sorgfalt.
Im besagten Urteil hält das Bundesgericht fest, dass es im Einzelfall dem Arzt obliege, «die richtige Therapie zu wählen und darauf zu achten, dass keine Unverträglichkeiten (Kontraindikation) gegeben sind». Demnach sei entscheidend, «ob die ungünstigste Wirkungsweise (Kontraindikation) bzw. Unverträglichkeit im Zeitpunkt der Applikation erkennbar war oder nicht [...]» [8]. Massgebend ist aber immer der Einzelfall, «namentlich nach der Art des Eingriffs oder der Behandlung, den damit verbundenen Risiken, dem Beurteilungs- und Bewertungsspielraum, der dem Arzt zusteht, sowie den ­Mitteln und der Dringlichkeit der medizinischen Massnahme. Der Arzt hat die nach den Umständen gebotene und zumutbare Sorgfalt zu beachten. Er hat indes nicht für jene Gefahren und Risiken einzustehen, die immanent mit jeder ärztlichen Handlung und auch mit der Krankheit an sich verbunden sind. Zudem steht dem Arzt sowohl in der Diagnose als auch in der Bestimmung the­rapeutischer oder anderer Massnahmen oftmals ein gewisser Entscheidungsspielraum zu. Der Arzt verletzt seine Sorgfaltspflichten nur dort, wo er eine Diagnose stellt bzw. eine Therapie oder ein sonstiges Vorgehen wählt, das nach dem allgemeinen fachlichen Wissensstand nicht mehr als vertretbar erscheint und daher den objektivierten Anforderungen der ärztlichen Kunst nicht genügt» [9].
Dieser vorliegende Fall zeigt den Entscheidungs­spielraum auf. Das sollte aber nicht heissen, dass ein Arzt entbunden davon ist, die Krankengeschichte zu ­vervollständigen, um lege artis die richtige Therapie zu wählen. Im vorliegenden Fall hatte der Hausarzt doch mehrmalig die Patientin dazu aufgefordert, ihm die Unterlagen der vorhergehenden Hausärztin zu übermitteln. Gemäss der bundesgerichtlichen Erläuterungen ergab sich für den Hausarzt – durch die Zusicherung der Patientin, aktiv zu werden – deshalb nicht, selber aktiv werden zu müssen. Aufgrund der Einträge in die Krankengeschichte ist davon auszugehen, dass der Behandlungsablauf zugunsten des Hausarztes ­rekonstruiert werden konnte.
Auf der anderen Seite führten eben der Vermerk der ­Antibiotikaallergie im Dokumentationssystem der ­Apothekerin und das Übersehen dieses Vermerks zur strafrechtlichen Verurteilung der Apothekerin. Der ­interprofessionelle Austausch war durch die unterschiedlichen Dokumentationssysteme nicht gewährleistet. Es zeigt einmal mehr, dass die interprofessionelle Koordination und der Informationsaustausch im Sinne der Patientensicherheit funktionieren muss und ebenso der Patient seine / die Patientin ihre aktive Rolle im Behandlungsprozess wahrzunehmen hat.
Dieser Fall zeigt einmal mehr auf, dass es unabdingbar ist, einheitlich definierte Kommunikationskanäle und elektronische Ablagesysteme wie zum Beispiel das EPD im ärztlichen Berufsalltag an der Schnittstelle des interprofessionellen Austausches sowohl im Sinne der Patientensicherheit als auch der Rechtssicherheit der Ärztinnen und Ärzte im Einsatz zu haben [10].
iris.herzog[at]fmh.ch
 1 BGer vom 28.10.2021 (6B_727/2020) für amtliche Sammlung ­vorgesehen.
 2 BGE 117 Ib 197.
 3 BGE 141 III 363.
 4 BGE 141 III 363.
 5 BGer vom 23.3.2017 (6B_1031/2016): «Der Arzt verletzt seine Pflichten nur dort, wo er eine Diagnose stellt bzw. eine Therapie oder ein sonstiges Vorgehen wählt, das nach dem allgemeinen fachlichen Wissensstand nicht mehr als vertretbar erscheint und daher den objektivierten Anforderungen der ärztlichen Kunst nicht genügt (BGE 134 IV 175 E. 3.2; BGE 130 IV 7 E. 3.3, je mit Hinweisen; vgl. auch 130 I 337 E. 5.3; BGE 133 III 121 E. 3.1; BGE 115 Ib 175 E. 2b).»
 6 BGer vom 28.10.2021 (6B_727/2020).
 8 Urteil BGer vom 28.10.2021 (6B_727/2020) E. 2.4.2; BGE 130 IV 7 E. 3.3.
 9 BGE 130 IV 7 E. 3.3.

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