42-Stunden-Woche mit grossem Plus

42-Stunden-Woche mit grossem Plus

Hintergrund
Ausgabe
2023/49
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.1267925043
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(49):16-20

Publiziert am 06.12.2023

Neues Arbeitszeitmodell
Das Institut für Intensivmedizin des Universitätsspitals Zürich hat die 42+4-Stunden-Woche eingeführt. Es ist dafür mit der Spitalrose des Verbands Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte ausgezeichnet worden. Wo steht das Pilotprojekt heute?
Für Reto Schüpbach, Direktor des Instituts für Intensivmedizin am Universitätsspital Zürich (USZ), war schon lange klar, dass die aktuelle Handhabung der 50-Stunden-Woche im Schichtbetrieb nicht mit dem Arbeitsrecht vereinbar ist. Deshalb bot das Pilotprojekt «42+4-Stunden-Woche» eine willkommene Gelegenheit zur Veränderung. «Wir haben die Chance ergriffen und eine eigene Lösung für das Problem gefunden.» Maximal 50 Stunden dürfen Assistenzärztinnen und -ärzte pro Woche arbeiten. Diese Obergrenze kann zwar ausnahmsweise überschritten werden, wird aber von vielen Spitälern als Sollarbeitszeit eingeplant. Weil Schweizer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte gemäss einer Umfrage durchschnittlich 56 Stunden pro Woche arbeiten, führt dies gemeinhin zu Überzeit. «Diese langen Arbeitszeiten sind illegal, gefährden die Gesundheit der [Ärztinnen und Ärzte] wie auch die Patientensicherheit», schreibt der Verband Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte vsao [1]. Und sie sind mit der häufigste Grund, warum junge Medizinerinnen und Mediziner ihrem Beruf den Rücken kehren wollen.

Garantierte Weiterbildungszeit

Das Institut für Intensivmedizin am USZ plant seinen Betrieb in drei Schichten zu neun Stunden.
Es spielten etliche Faktoren zusammen, dass das Arbeitszeitmodell 42+4 am Institut für Intensivmedizin Anfang 2023 eingeführt werden konnte. Schon vor der Pandemie hatte man mit Personalmangel zu kämpfen. Um die Arbeitsbedingungen zu verbessern, habe man zwar unter Corona sämtliche Prozesse auf mehr Effizienz durchleuchtet, «aber diese Zitrone ist halt schon ziemlich ausgepresst», sagt Reto Schüpbach. So stiess im Juni 2022 eine schriftliche Forderung der Chief Residents im Namen der Assistenzärzteschaft an die Leitung des USZ, 42+4 einzuführen, auf offene Ohren [2]. «Das USZ wollte angesichts des Fachkräftemangels neue Wege gehen – die 42-Stunden-Woche bot uns die Möglichkeit, die Mitarbeitenden zu entlasten und attraktiver zu werden», sagt Thomas Weber, HR Business Partner am USZ. Das ganz grosse Plus daran für Reto Schüpbach: Das neue Arbeitszeitmodell garantiert dem ärztlichen Nachwuchs die vier Stunden gesetzlich vorgeschriebene strukturierte Weiterbildung pro Woche. Und der Effort für die Einführung von 42+4 zahlt sich aus, davon zeugt nicht nur die vom vsao verliehene «Spitalrose».

«Die 42-Stunden-Woche bot dem USZ die Möglichkeit, attraktiver zu werden.»

Gesetzeskonforme Dienstpläne

Die neue 42-Stunden-Woche orientiert sich am durchschnittlichen schweizerischen Vollpensum von 38,5 bis 42,5 Stunden und definiert entsprechend 42 Stunden Sollarbeitszeit für Dienstleistungen rund um die Patientenbetreuung [1]. Die wöchentlichen vier Stunden strukturierte Weiterbildung steht der Assistenzärzteschaft zu und gilt als Arbeitszeit. Die vier verbleibenden Stunden bis zum erlaubten 50-Stunden-Maximum dienen als Puffer für ausserordentliche Einsätze. Gemäss vsao gelingt 42+4, wenn die Dienstplanung das Arbeitsgesetz berücksichtigt, die Weiterbildung ihren festen Platz darin hat und von der übrigen Arbeitszeit getrennt erfasst wird.
Ausserdem darf entstandene Überzeit nicht mit unverschuldeten Minusstunden verrechnet werden, betont Philipp Rahm, Dienstplanberater beim vsao. Im Schichtsystem entstehen unverschuldete Minusstunden beispielsweise, weil bei einer arbeitsgesetzkonformen Planung von Wochenenddiensten nicht alle Sollarbeitstage ausgeplant werden können [3]. Diese «vielerorts übliche, aber nicht korrekte» Verrechnung sorgt für entsprechenden Unmut bei den Arbeitnehmenden, weil sie für ihre geleistete Überzeit keinen Ausgleich durch geplante Freizeit bekommen [4]. «Dessen sind sich aber inzwischen immer mehr Spitäler bewusst», sagt Philipp Rahm.

27 Stunden fürs Dreischichtsystem

Das Institut für Intensivmedizin am USZ plant seit Anfang Jahr seinen Betrieb durchgehend in drei Schichten zu neun Stunden. Idealerweise steht zu Beginn und Ende einer Schicht je eine halbe Stunde für die Übergabe zur Verfügung. Doch ist nach der Schicht häufig die liegengebliebene Administration nachzuführen.
Reto Schüpbach beklagt diesen «FMH-Titel für Papeterie» an den Spitälern: «Unsere Dokumentations- und Verordnungssysteme müssen bedienungsfreundlicher werden.» Die strukturierte Weiterbildung findet auf der Intensivmedizin nun am Mittag statt, sodass sowohl die Früh- als auch die Spätschicht daran teilnehmen kann. «Das funktioniert natürlich nur, wenn wir nicht plötzlich gebraucht werden.» Deshalb zeichne man diese Lehrveranstaltungen auf und suche stets nach Verbesserungen.

«Nur wenn wir die Arbeit inklusive Weiterbildung planen, können die Menschen langfristig für die Medizin begeistern.»

Für die Analyse des Pilotprojekts 42+4 werden die Präsenzzeiten systematisch erfasst. Nach neun Monaten Laufzeit zeigt sich Thomas Weber zufrieden: «Es gibt eine klare Verbesserung bei den Minuszeiten, ebenso beim Einhalten der Ruhezeiten.» Die Mitarbeitenden würden also effizienter eingesetzt. Befürchtungen, dass im neuen Modell noch mehr Personal benötigt würde, haben sich nicht bewahrheitet – hingegen hat sich der Pilotversuch herumgesprochen: Aktuell hat das Institut für Intensivmedizin im ärztlichen Team keine Nachwuchsprobleme mehr.

Organisatorische Herausforderung

Also alles bestens? «Es gibt immer wieder neue Fragen zu lösen», berichtet Reto Schüpbach. Man sei teilweise von externen Parteien abhängig, die sich auch ans neue Modell gewöhnen müssten, und es brauche viel Organisation, damit möglichst alle Assistenzärztinnen und -ärzte von den Weiterbildungsanlässen profitierten. Dies betrifft viele teilzeitarbeitende Ärztinnen, «die wir unbedingt auf Kaderstufe hinaufbringen möchten». Denn wie in anderen Fachrichtungen liegt der Frauenanteil im Team am Institut für Intensivmedizin bei über 50%. «Die Planung der Arbeit inklusive Weiterbildung ist ein holistisches Thema», unterstreicht der Intensivmediziner. «Nur wenn wir beides hinbekommen, können wir die Menschen auch in fünfzehn Jahren noch für die Medizin und ihre Entwicklung begeistern.» Gerade, wenn es um die herausfordernde Arbeit in einem 24/7-Betrieb gehe.

«Gute Arbeitsbedingungen sind für die stationäre Versorgung zum Überlebensfaktor geworden.»

Markus Truttmann, Arzt und beim Spitalverband H+ zuständig für Gesundheitspolitik, hat Verständnis für das Bedürfnis nach kürzeren Arbeitszeiten und Teilzeitarbeit. Die Bedingungen seien nicht mehr dieselben wie während seiner chirurgischen Weiterbildung vor 30 Jahren. Aufgrund des Spardrucks an den Spitälern gelte der damalige implizite Deal «Malochen in der Assistenzzeit, nachher dafür spannende Arbeit und angenehme Verhältnisse» nicht mehr. Für Markus Truttmann ist offensichtlich: «Gute Arbeitsbedingungen sind für die stationäre Versorgung zum Überlebensfaktor geworden.» Die Gewährleistung der strukturierten Weiterbildung ist dabei zentral. Aktuell finanzierten die Spitäler diese mehrheitlich selbst, sagt Markus Truttmann. Doch solange die Tarife nicht kostendeckend seien, kämen immer mehr Spitäler in die roten Zahlen, erfolgten Spitalschliessungen und gingen weitere Ausbildungsplätze verloren. «Es braucht die politische Einsicht, dass Ausbildung kostet», fordert er.

Wille, Wege, Runder Tisch

Am Willen zum Wandel mangelt es jedenfalls seitens der Weiterbildenden vielerorts nicht. Das zeigt etwa der neue Gesamtarbeitsvertrag für die Tessiner Assistenz- und Oberärzteschaft, der per Januar 2025 gilt und die Wochenarbeitszeit auf 46 Stunden reduziert, einschliesslich vier Stunden strukturierter Weiterbildung [5].
Oder auch die Chirurgie der Spital Thurgau AG, wo sogar acht Stunden strukturierte Weiterbildung für Assistenzärztinnen und -ärzte gewährleistet sind. Dies hat eine Untersuchung der Klinik ergeben [6]. Ihr Konzept: Auf der Station arbeiten auch klinische Fachspezialistinnen und -spezialisten. Diese Pflegefachpersonen übernehmen in Delegation einen Teil der ärztlichen Aufgaben und entlasten damit insbesondere die Ärzteschaft in Weiterbildung. «So können unsere acht Assistenzärztinnen und -ärzte mehr im OP arbeiten und kommen dadurch zu sicher zwei instruierten Standard-Operationen neben den regulären Weiterbildungsanlässen», sagt der Leitende Arzt Pascal Probst. Engagierte Weiterbildende und Assistenzärztinnen und -ärzte vorausgesetzt, seien ausserdem klare Strukturen und schlanke Prozesse unerlässlich. Zudem halte man die administrativen Pflichten möglichst gering. «Wir arbeiten praktisch papierlos, das erhöht die Effizienz.»

Klinische Fachspezialistinnen können insbesondere die Assistenzärztinnen und -ärzte entlasten.

Damit tritt Pascal Probsts Team dem hohen Anteil an administrativen und zunehmend auch organisatorischen Aufgaben entgegen, die zulasten der Arbeit mit den Patienten und häufig auch zulasten der Weiterbildung gehen. Ein Zustand, der vielen Ärztinnen und Ärzten die Freude am Beruf nimmt [1]. Lösungen für schlankere Prozesse innerhalb der Spitäler und einfachere Vorgaben von Krankenversicherungen und Behörden will der vsao nun gemeinsam mit allen wichtigen Akteuren erarbeiten. Im Juni und November hat er Bund und Kantone sowie Arbeitgeber- und ärztliche Berufsverbände zu einem Runden Tisch eingeladen [7]. Insbesondere auf die Resultate der Diskussion von Bürokratie-Beispielen aus der Praxis darf man gespannt sein.

42+4 und die (Aus-)Wirkungen

In Diskussion wird auch das neue Arbeitszeitmodell 42+4 bleiben. Pascal Probst wies in einem Interview mit dem vsao Journal darauf hin, dass sich durch die kürzeren Arbeitszeiten die Weiter- und Fortbildungszeit verlängere, wodurch das Kader noch stärker beansprucht werde. Dabei seien etwa gerade Chirurginnen darauf angewiesen, sich früh im Curriculum viel Kompetenz anzueignen, um die Familienplanung daran anschliessen zu können [8]. Pascal Probst plädiert für flexiblere Arbeitsmodelle. «Dies würde dem motivierten Nachwuchs wie auch den Weiterbildenden entgegenkommen», sagt der Chirurg, «und damit der Weiterbildung insgesamt.»
Am USZ indes ist man sich am Institut für Intensivmedizin und beim HR einig, dass 42+4 bereits einige positive Entwicklungen angestossen hat. So haben nicht nur USZ-interne Anfragen zum neuen Arbeitszeitmodell zugenommen, auch Externe bekunden zunehmend Interesse. Beides kommt für Thomas Weber nicht ganz unerwartet, respektive ist durchaus beabsichtigt. Ob weitere 24/7-Einheiten oder auch Institute mit Zweischicht-System für die 42+4-Stundenwoche infrage kommen, ist noch offen. «Doch wir führen Gespräche», sagt der HR Business Partner am USZ. Steigendes Interesse am neuen Arbeitszeitmodell stellt man auch auf der Dienstplanberatung des vsao fest – die Spitalrose erfüllt offenbar ihren Zweck.
1 Die 42+4-Stunden-Woche: https://vsao.ch/arbeitsbedingungen/42plus4/, Stand: 06.11.2023
2 VSAO-Mitgliederumfrage 2023: https://vsao.ch/medien-und-publikationen/studien-und-umfragen/#, Stand: 07.11.2023.
3 Rahm, P.: Dienstplanung – worauf es sich zu achten lohnt. swiss knife 2019; 1
4 Rahm, P.: Dienstplanung – vom korrekten Umgang mit Überzeit. Schweiz. Ärztezeitung 2021;102 (23), 765-767
5 «Rinnovati i contratti collettivi di lavoro per i medici assistenti e medici capiclinica EOC», Medienmitteilung des ASMAC TICINO vom 27.10.2022, https://asmact.ch/?p=1864.
6 Kovacevic D et al. Quality And Quantity of Structured Education for Surgical Residents at a Swiss Hospital. swiss knife. 2023; 20: special edition, 21.
7 «Runder Tisch: die Arbeit geht los», https://vsao.ch/2023/10/18/update-runder-tisch/ Stand 08.11.2023.
8 Reusser, O.: «Eine chirurgische Weiterbildung ist in einer 42+4-Stunden-Woche möglich». vsao Journal Nr. 5–2023, 12–14