Teilhabe braucht einen Dialog auf Augenhöhe

Teilhabe braucht einen Dialog auf Augenhöhe

Hintergrund
Ausgabe
2024/04
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2024.1288500248
Schweiz Ärzteztg. 2024;105(04):12-15

Publiziert am 24.01.2024

Partizipation
Die Mitwirkung von Patientinnen und Patienten im Schweizer Gesundheitswesen steckt noch in den Anfängen. Aber sie nimmt Fahrt auf – von der Partizipation in der medizinischen Forschung bis zur Mitgestaltung der Gesundheitspolitik.
Vanessa Grand hat sich einen Knochenbruch zugezogen und ist im Spital. Mit ihrer Glasknochenkrankheit erlebt sie dies öfters. Aus Erfahrung weiss sie: Auf dem Röntgenbild sind ihre Knochen und Brüche zu wenig gut sichtbar, es braucht eine Computertomografie. Auch diesmal weist sie im Spital darauf hin. Trotzdem wird zuerst ein Röntgenbild gemacht – schliesslich ist das der Standard. Nach der Ernüchterung seitens des Arztes, dass Knochen und Brüche darauf nicht genügend sichtbar sind, folgt die Tomografie. Für Vanessa Grand heisst das mehr Zeitaufwand, mehr Strahlenbelastung, mehr Kosten für sie und das Gesundheitswesen und vor allem: Sie fühlt sich nicht ernst genommen.
Sie ist deshalb überzeugt: «Wenn Patientinnen und Patienten ihre Erfahrung einbringen können, wird die Behandlung zielgerichteter, wirksamer, und wir schonen Ressourcen. Wir müssen die Erfahrung der Betroffenen und das medizinische Fachwissen des Gesundheitsfachpersonals zusammenbringen.» Gemäss Vanessa Grand sollte deshalb der Slogan «Nichts über uns ohne uns» der internationalen Behindertenbewegung auch für Patientinnen und Patienten im Gesundheitswesen gelten. Das Wissen der Betroffenen wäre nicht nur bei der Behandlung wichtig, sondern auch wenn es etwa darum geht, Spitalzimmer zu gestalten oder Prozesse im Gesundheitswesen zu definieren. Zudem sollten gemäss Grand auf übergeordneter Ebene bei wichtigen Entscheidungen Patientengremien zurate gezogen werden, etwa bei Krankenkassen und in der Gesundheitspolitik: «Wünschenswert wäre, dass Patientinnen und Patienten nicht nur mitreden, sondern auch mitentscheiden können.»

Vanessa Grand

Mitglied im Patientenbeirat der SPO

«Wünschenswert wäre, dass Patientinnen und Patienten nicht nur mitreden, sondern auch mitentscheiden können.»

Massiver Kulturwandel

Ihre Erfahrung als Patientin bringt Vanessa Grand nicht nur bei ihrer eigenen medizinischen Behandlung ein, sondern auch in verschiedenen Gremien. So ist sie Mitglied im 2021 geschaffenen Patientenbeirat der Schweizerischen Patientenorganisation (SPO). Der Beirat trägt die Anliegen der Patientinnen und Patienten in die Öffentlichkeit und speist Themen und Anliegen in die Organisation ein. Das Gremium besteht aus derzeit zehn Personen mit verschiedenen chronischen Krankheiten. Dabei stellt Grand fest: «Unsere Bedürfnisse und Erfahrungen im Gesundheitswesen sind oft sehr ähnlich. Insofern kann unser Gremium durchaus repräsentativ für andere Patientinnen und Patienten sprechen.»
Aus der Sicht von SPO-Geschäftsführerin Susanne Gedamke hat der Beirat einen eigentlichen Kulturwandel innerhalb der Organisation bewirkt. Patientenorganisationen seien bisher «Leistungserbringende» gewesen: Mitarbeitende aus dem medizinisch-pflegerischen Bereich hätten Beratungen für Patientinnen und Patienten angeboten. «Jetzt arbeiten Patientinnen und Patienten plötzlich selber in der Organisation mit. Das war zu Beginn eine grosse Herausforderung und hat viel integrative Arbeit und Kommunikation gebraucht», sagt Gedamke. Die Erfahrung der SPO sei es, dass es medizinischen Institutionen ähnlich ergehe: «Es fordert sie, nicht mehr nur Patientenorganisationen, sondern Betroffene selbst am Tisch zu haben. Wenn deren Expertise ernst genommen wird, können erfolgreiche Projekte zustande kommen.» Bei der SPO entstand zum Beispiel die neue Meldeplattform Patbox für Patientinnen, Patienten und Angehörige in enger Zusammenarbeit mit dem Patientenbeirat [1].

Zunehmende Dynamik

Die Anliegen der Patientinnen und Patienten aufnehmen: Was auf der individuellen Ebene bei einer Behandlung etwa mit dem Shared Decision Making erleichtert werden soll, findet seinen Weg zunehmend auch auf die institutionelle und Systemebene. Schon weiter fortgeschritten ist dieser Prozess in Ländern wie Grossbritannien, den Niederlanden und den skandinavischen Staaten [2]. Ausserhalb von Europa gilt das in Kanada entwickelte Montreal-Modell als ein Vorbild für ein partizipatives Gesundheitswesen [3].
Aber auch in der Schweiz nimmt die Entwicklung an Fahrt auf. So richten etwa Spitäler Patientenräte ein und Betroffene werden stärker in medizinische Forschungsprojekte einbezogen. Eine zunehmende Dynamik sieht auch Prof. Dr. Karin van Holten, Co-Leiterin des 2020 gegründeten PART – Kompetenzzentrum Partizipative Gesundheitsversorgung der Berner Fachhochschule [4]. Die Romandie sei dabei weiter als die übrige Schweiz. Aber unabhängig von der Sprachregion: «Oft betreten die Akteure in Sachen Partizipation noch Neuland», so van Holten. Das zeige sich auch an der Vielfalt der Begriffe, die verwendet würden: Von Beteiligung, Engagement, Mitwirkung, Einbezug und «Patient Voice» ist da neben Partizipation etwa die Rede. Auch «Public and Patient Involvement» (PPI) ist ein häufig anzutreffender Begriff. Die Patientinnen und Patienten wiederum werden unter anderem als «Expertinnen aus Erfahrung» oder «Patient Experts» bezeichnet.
Karin van Holten sieht im Gesundheitswesen oft Unsicherheit, wie das Thema Partizipation anzugehen sei. Nicht zu Unrecht: «Partizipative Prozesse sind anspruchsvoll und nicht von heute auf morgen umsetzbar.» Sie empfiehlt deshalb Schulung für alle Beteiligten. Das Kompetenzzentrum der Berner Fachhochschule ist dabei, ein entsprechendes Angebot, Beratung und gemeinsam mit weiteren Organisationen ein schweizweites Netzwerk aufzubauen. Für November 2024 ist ein erstes nationales Symposium geplant.

Prof. Dr. Karin van Holten

Co-Leiterin PART

«Oft betreten die Akteure Neuland. Partizipative Prozesse sind anspruchsvoll und nicht von heute auf morgen umsetzbar.»

Die Qualität verbessern

Partizipation kann verschiedene Ebenen und Ausprägungen umfassen: Das reicht vom Informieren und Feedback einholen bis zur eigentlichen Mitbestimmung. In der medizinischen Forschung ist Partizipation auf verschiedenen Stufen möglich – von der Identifikation relevanter Forschungsthemen bis zur Evaluation und Kommunikation der Ergebnisse. «Der Ansatz ist noch recht neu in der Schweiz, gewinnt aber an Bedeutung», sagt Tamara Kohler, bis 2023 Projektverantwortliche Patient and Public Involvement bei der Swiss Clinical Trial Organisation (SCTO): «Sowohl bei akademischen Studien wie bei solchen von Pharmafirmen werden Patientinnen und Patienten zunehmend einbezogen.» Eine schweizweite Übersicht der SCTO zeigt bisher rund 50 partizipative Vorhaben allein im akademischen Bereich [5]. Auch die SCTO will solche Projekte fördern, indem sie Beratungen und Schulungen anbietet und Guidelines entwickelt [6]. In den kommenden Jahren sollen zudem ein Forum und ein Vermittlungstool für den Austausch und die Vernetzung von Patientinnen, Patienten und Forschenden entstehen. Denn: «Partizipation ist wichtig für eine qualitativ hochstehende, patientenorientierte klinische Forschung», so Kohler.

Dialog auf Augenhöhe

Damit dies gelinge, sei vor allem ein Dialog auf Augenhöhe zwischen allen Beteiligten entscheidend. Dazu gehöre eine transparente, gut verständliche Kommunikation, eine klare Zieldefinition der gemeinsamen Zusammenarbeit und eine präzise Rollenbeschreibung: Wer übernimmt welche Aufgaben? «Ebenso wichtig ist es, eine unterstützende und vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen. Damit sich Patientinnen und Patienten ermutigt fühlen, ihre Meinung offen zu äussern», sagt Kohler.
Unterstützung auf dem Weg zu mehr partizipativer Forschung gibt es auch von der Initiative EUPATI Schweiz. Diese bietet neu einen Kurs an, damit Patientinnen, Patienten und ihre Vertretenden sich Kenntnisse über klinische Forschung aneignen und als gleichberechtigte Partner in Projekte einbezogen werden können [7]. Bereits Realität ist dies etwa beim Schweizerischen Nationalfonds (SNF). Dort sind aktuell vier Patientinnen und Patienten Teil des Gremiums, das die Fördergesuche von Investigator Initiated Clinical Trials (IICT) evaluiert. Jetzt prüft der SNF, ein ähnliches Vorgehen auf andere Förderinstrumente zu erweitern.

Eine Frage der Haltung

Für Partizipationsforscherin Karin van Holten ist klar, dass sich mehr Mitwirkung und Mitbestimmung im Gesundheitswesen lohnen. Studien zeigten etwa, dass Gesundheitsdienstleistungen dadurch besser den Bedürfnissen der Menschen entsprächen und auch wirksamer seien [8, 9]. «Ausserdem fördert Partizipation die Chancengleichheit in der Gesundheitsversorgung. Und ich bin überzeugt, dass mit mehr Mitwirkung langfristig die Beschäftigten im Gesundheitswesen mit ihrer Arbeit zufriedener sind und damit ein Beitrag zum Fachkräftemangel geleistet werden kann», so van Holten.
Partizipation bedürfe allerdings auch Ressourcen, um entsprechende Gefässe aufzubauen. «An solchen Finanzierungsmöglichkeiten fehlt es in der Schweiz noch», sind sich Karin van Holten und Tamara Kohler einig. Zumal die Partizipation von Patientinnen und Patienten nicht als Freiwilligenarbeit betrachtet, sondern fair entschädigt werden sollte.
Ob Partizipation auch im Schweizer Gesundheitswesen mehr Verbreitung finden wird, ist vor allem eine Frage der Haltung, ist van Holten überzeugt. Susanne Gedamke von der SPO warnt dabei davor, Patientinnen und Patienten nur als Feigenblatt zu nutzen, ohne ihre Erfahrung wirklich ernst zu nehmen. Diese Gefahr bestehe manchmal, zumal gerade im Schweizer Gesundheitswesen noch ein hierarchisches Denken und die Haltung bestehe, dass nur Fachwissen wirkliche Expertise sei. «Aber ein Kulturwandel ist im Gange, wenn auch sehr langsam», so das optimistische Fazit von Gedamke. Das sie mit der Forderung verbindet: «Patientinnen und Patienten sollten auf Bundesebene in den wichtigsten Kommissionen vertreten sein. Zumindest bei grundlegenden Entscheidungen im Gesundheitswesen sollte dies gesetzlich verankert sein.»
Für Karin van Holten besteht das grösste Potenzial der Partizipation im Austausch über die Sichtweisen, der es erlaube, neue Erfahrungshorizonte zu erschliessen. Dem kann Vanessa Grand als Patientin nur zustimmen: «Niemand kann wissen, wie es ist, mit einer chronischen Krankheit zu leben, wenn man nicht selbst betroffen ist. Umso wichtiger ist es, aus erster Hand davon zu hören. Nur so kann ein Gesundheitswesen entstehen, das an die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten angepasst ist.»

Partizipation fördern – aber wie?

Sie wollen in Ihrer Institution mehr Partizipation? Hier einige Tipps:
  • Reflexion: Welches Ziel wollen Sie damit erreichen? Inwiefern besteht heute schon eine Kultur der Partizipation? Bei welchen Aspekten wäre mehr Beteiligung sinnvoll – eher im persönlichen Kontakt mit Patientinnen und Patienten oder auf institutioneller Ebene bei Prozessen und Strukturen?
  • Einbezug: Fragen Sie Ihre Patientinnen und Patienten, ob und in welchen Punkten diese sich mehr Mitsprache und Mitbestimmung wünschen.
  • Best Practice und Beratung: Lassen Sie sich inspirieren, indem Sie sich mit Institutionen vernetzen, die schon partizipative Projekte verwirklicht haben. Oder lassen Sie sich beraten. Beides geht zum Beispiel über die Swiss Clinical Trial Organisation [5] und das PART – Kompetenzzentrum Partizipative Gesundheitsversorgung der Berner Fachhochschule [4].

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