Standesrecht und die SAMW-Richtlinien «Umgang mit Sterben und Tod»

Standesrecht und die SAMW-Richtlinien «Umgang mit Sterben und Tod»

Aktuell
Ausgabe
2024/0102
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2024.1332283096
Schweiz Ärzteztg. 2024;105(01-02):26-28

Publiziert am 10.01.2024

Einordnung
Im Mai 2022 hat die Ärztekammer die Aufnahme der medizin-ethischen Richtlinien «Umgang mit Sterben und Tod» (2018, angepasst 2021) in die FMH-Standesordnung beschlossen. Ein Unterkapitel betrifft die Suizidhilfe und nennt die vier notwendigen Voraussetzungen, um ärztliche Suizidhilfe im Einzelfall als ethisch verantwortbar einstufen zu können.
Die medizin-ethischen Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW), insbesondere die Richtlinien «Umgang mit Sterben und Tod» und deren Aufnahme in die Standesordnung der FMH führt zu kontroversen juristischen Diskussionen. Im Zentrum stehen dabei insbesondere die Legitimation von Standesrecht und von medizin-ethischen Richtlinien, deren Verhältnis zum staatlichen Recht, das Selbstbestimmungsrecht der Sterbewilligen und der persönlichen Freiheit von Ärztinnen und Ärzte. Zur Klarstellung dieser aktuell juristisch divergierenden Diskussion bat die FMH Herrn Prof. Dr. iur. Gächter, Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich. in einem schriftlichen Interview um seine wissenschaftlich-juristische Einschätzung.
Wie beurteilen Sie diese Aussage: «Was durch das Gesetz nicht verboten ist, kann auch durch die SAMW resp. die FMH-Standesordnung nicht verboten werden»?
Staatliche Gesetzgebung und Standesrecht und Medizinethik stehen in einem komplexen Verhältnis, das differenziert betrachtet werden muss. Richtig ist an der Aussage, dass staatliches Recht dem Standesrecht vorgeht, soweit das staatliche Recht eine zwingende Vorschrift enthält oder keinen Gestaltungsspielraum lässt. Es trifft aber nicht zu, dass Standesrecht – auch bei bestehendem Gesetzesrecht – keine Bedeutung mehr haben kann. Eine solche kann und soll es immer dort haben, wo das Gesetzesrecht unbestimmte Rechtsbegriffe enthält, die beispielsweise medizinethisch oder standesrechtlich konkretisiert werden können. Schliesslich muss man sich auch vor Augen führen, dass sich Standesrecht an die Angehörigen des Standes, das heisst rechtlich betrachtet an die Mitglieder des entsprechenden Vereins, richtet. Es hat keine direkt bindende Wirkung über diesen Kreis hinaus, auch wenn sich Handlungen, die sich auf das Standesrecht stützen, letztlich auch auf Patientinnen und Patienten und andere Partner des Standes auswirken.

«Wo das Gesetzesrecht unbestimmte Rechtsbegriffe enthält, kann das Standesrecht medizinethisch konkretisieren.»

Prof. Dr. iur. Regina E. Aebi-Müller, ZEK Mitglied, bezeichnete in ihrem Artikel im SAMW-Bulletin 3/2022 die SAMW-Richtlinien und die Standesordnung der FMH als «soft law» und die Richtlinien als «unabdingbarer Bestandteil des Medizinrechts», welche eine «Lücke» füllen respektive eine «wichtige Vermittlungs- und Übersetzungsfunktion» wahrnehmen. Teilen Sie diese Meinung?
Seit jeher besteht eine Art Wechselspiel zwischen staatlichem Recht und Standesrecht. Letzteres nimmt häufig aktuelle Entwicklungen auf, die der Gesetzgeber noch nicht geregelt hat. Es stellt den Ärztinnen und Ärzten, die hier und heute handeln müssen und nicht auf den Gesetzgeber warten können, ethisch und fachlich fundierte Massstäbe zur Verfügung, um ihre Tätigkeit sorgfältig und gewissenhaft ausüben zu können. Häufig nimmt der Gesetzgeber solche Entwicklungen dann auf und schafft Regelungen, die das bisherige Standesrecht übernehmen oder eine andere Abwägung treffen. Je nachdem, wie offen eine nachfolgende gesetzliche Regelung ausfällt, verbleibt noch Raum für Standesrecht.
Das Zitat von Frau Kollegin Aebi-Müller beschreibt dieses Wechselspiel treffend, namentlich die Aspekte der Lückenfüllung sowie die Vermittlungs- und Übersetzungsunktion. Letztere besteht vor allem darin, die im Medizinrecht besonders häufigen unbestimmten Rechtsbegriffe und Verweise auf ausserrechtliche Massstäbe praktikabel und verständlich zu konkretisieren. Die unbestimmten Rechtsbegriffe mögen in der Juristerei genügen, um Verantwortlichkeiten zuzuweisen und Abgrenzungen vorzunehmen. In der medizinischen Praxis sind sie jedoch zu unbestimmt. Insofern sind sie, wie Kollegin Aebi-Müller ebenfalls schreibt, «unabdingbarer Bestandteil des Medizinrechts».
Die Schweiz befindet sich denn auch mit der Überlagerung von staatlichen Normen durch standesrechtliche Vorgaben in bester Gesellschaft der meisten Staaten. Mir ist kein Staat bekannt, in welchem ausschliesslich detaillierte staatliche Regelungen das ärztliche Handeln regulieren, ohne dass den Standes- und Fachorganisationen nicht auch noch eine bedeutsame Rolle bei der praktischen Konkretisierung zukommt.
Und wie schätzen Sie vor diesem Hintergrund die Bedeutung der SAMW-Richtlinien «Umgang mit Sterben und Tod» ein, die von der FMH übernommen worden sind?
Besonders differenziert und für Verkürzungen wenig geeignet ist das Verhältnis zwischen staatlichem Recht und Standesrecht in diesem Bereich. Gerade dann, wenn es im Vorfeld eines begleiteten Suizids um die Verschreibung von Natrium-Pentobarbital (NaP) geht, zeigt sich ein mehrpoliges Spannungsverhältnis.

«Standesrecht stellt Ärztinnen und Ärzten ethisch und fachlich fundierte Massstäbe zur Verfügung.»

Einerseits besteht die grundrechtliche geschützte Freiheit aller Menschen, ihrem Leben selbstbestimmt ein Ende setzen zu dürfen, sofern sie den entsprechenden Entscheid im urteilsfähigen Zustand gefällt haben. Anderseits trifft den Staat die Pflicht, zum Schutz der Allgemeinheit den Umgang mit tödlichen Substanzen wie NaP zu regulieren. Hier kommt dann die Ärzteschaft ins Spiel, weil NaP nach der geltenden gesetzlichen Regelung zwingend verschreibungspflichtig ist. Für die Verschreibung wiederum sind sowohl im Betäubungsmittelrecht, dem NaP untersteht, als auch im Heilmittelrecht die «anerkannten Regeln der medizinischen Wissenschaften» massgeblich.
Was sind nun aber die «anerkannten Regeln der medizinischen Wissenschaft», wenn es um die Verschreibung von NaP in letaler Dosis geht? Gibt es überhaupt anerkannte Regeln der medizinischen Wissenschaft, wie ein Mensch mit NaP korrekt zu Tode gebracht werden kann? Mir sind mindestens keine solchen Richtlinien bekannt – was vor allem daran liegt, dass sich die medizinische Wissenschaft nicht mit der Frage beschäftigt, wie jemand wirkungsvoll getötet werden kann, sondern vielmehr mit der Heilung und Linderung von Krankheiten.
Gleichwohl sehen sich Ärztinnen und Ärzte immer wieder mit der Situation konfrontiert, dass sie von sterbewilligen Patientinnen und Patienten etwa um die Verschreibung von NaP gebeten werden. Die Richtlinien «Sterben und Tod» stellen ihnen für diese Situationen Handreichungen zur Verfügung, in welchen Situationen und unter welchen Voraussetzungen eine solche Unterstützung nach anerkannten medizinethischen Grundsätzen zulässig ist. Dabei handelt es sich wohlgemerkt um standesrechtliche Vorgaben mit ethischem Gehalt, nicht um «anerkannte Regeln der medizinischen Wissenschaft», wie sie vom Heilmittel- und vom Betäubungsmittelrecht gefordert werden. Gleichwohl bilden die Richtlinien zurzeit die klarste und wohl auch transparenteste Grundlage, damit Ärztinnen und Ärzte in diesen Situationen sorgfältig und gewissenhaft handeln können. Ärztinnen und Ärzte sind somit gut beraten, sich an die Richtlinien zu halten.
Und hier nun liegt ein entscheidender Punkt: Die Richtlinien modifizieren nicht etwa das staatliche Recht, sondern geben den Mitgliedern der FMH sichere Leitplanken, wie sie sich auf jeden Fall korrekt verhalten. Dass das staatliche Recht allenfalls weiter gefasst ist, das heisst eine Verletzung der Richtlinien nicht automatisch auch eine Verletzung staatlichen Rechts bedeutet, liegt in der Natur der Sache. Die FMH kann denn auch nicht mehr als die in der Standesordnung vorgesehen Sanktionen ergreifen.
Wer nun allerdings nur vom Pol der sterbewilligen Patientinnen und Patienten aus denkt und die Verschreibung von NaP an alle fordert, die davon Gebrauch machen wollen, wird in der wohlerwogenen, aber vorsichtigen Regelung in den Richtlinien eine faktische Einschränkung dieser Möglichkeit erblicken. Einer solchen Sichtweise ist entgegenzuhalten, dass die Standesordnung nur das Verhalten der Ärztinnen und Ärzte regeln möchte, die der FMH angehören. Der Freiheit der Einzelnen, den Freitod wählen zu dürfen, steht keine Pflicht der Ärzteschaft gegenüber, entsprechende Hilfestellungen zu leisten. Das staatliche Recht bleibt dadurch unberührt, denn auch dieses verpflichtet die Ärzteschaft nicht zu solchen Handlungen.
Werden nach Ihrer Einschätzung demnach durch die Aufnahme der SAMW-Richtlinien «Umgang mit Sterben und Tod» in das Standesrecht der FMH die Grundrechte der Patientinnen und Patienten nicht gefährdet oder verletzt?
Mir ist natürlich bekannt, dass gerade auch in jüngerer Zeit die Behauptung erhoben wird, dass die Richtlinien einerseits im Widerspruch zum staatlichen Recht stehen und anderseits den Zugang zu Substanzen verunmöglichen, die zur Umsetzung des Rechts auf den eigenen Tod erforderlich sind.
Zum ersten Punkt habe ich bereits ausgeführt, dass aus meiner Sicht ein Widerspruch nur konstruiert werden kann, wenn man die Regelungsgehalte des staatlichen Rechts und der Richtlinien verkürzt betrachtet.

«Für die Mitglieder der FMH sind die Richtlinien bindend, auch wenn sie kein staatliches Recht darstellen.»

Zum zweiten Punkt ist anzumerken, dass der nach wie vor bestehenden Rechtsunsicherheit, unter welchen Voraussetzungen einer Person eine letale Substanz nach den «anerkannten Regeln der medizinischen Wissenschaft» verschrieben werden darf, seitens der FMH mit Vorsicht begegnet wird und anerkannte ethischen Massstäbe übernommen werden, um das Handeln ihrer Mitglieder anzuleiten. Eine Einschränkung von Grundrechten wäre darin nur zu erblicken, wenn ein grundrechtlicher Anspruch auf eine bestimmte Art des Suizids oder auf eine bestimmte Substanz bestünde, was nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung aber nicht der Fall ist.
Wer allerdings einen entsprechenden Anspruch auf Verschreibung einer Substanz wie NaP schaffen will, sollte seine Kritik weniger an das Standesrecht der FMH richten, sondern an den staatlichen Gesetzgeber, der für die Abgabe auf «anerkannte Regeln der medizinischen Wissenschaft» verweist, statt beispielsweise klare Regeln und Leitplanken für die Abgabe tödlicher Substanzen an Sterbewillige zu formulieren. Damit würde deutlich mehr Rechtssicherheit geschaffen und die entsprechenden Regeln hätten somit auch die erforderliche demokratische Legitimation.
Mit Urteil 6B_646/2020 vom 9. Dezember 2021 hat das Bundesgericht folgende Feststellung zur SAMW-Richtlinie und der FMH-Standesordnung im Zusammenhang mit der Sterbehilfe getätigt, «[…] règles émanant de l’ASSM et de la FMH, à savoir des règles non contraignantes et d’origine privée […]». Welche Verbindlichkeit haben die SAMW-Richtlinien zur Suizidhilfe durch ihre Aufnahme in die Standesordnung der FMH für die FMH-Ärztinnen und -Ärzte? Erachten Sie diese Verbindlichkeit als rechtmässig mit Bezug zur Rechtsprechung des Bundesgerichtes? Welche Lehren kann man aus diesem Urteil mit Bezug zur Sterbehilfe ziehen?
Der sehr sorgfältig redigierte und dicht belegte Entscheid vom 9. Dezember 2021 hat die SAMW-Richtlinien und die FMH-Standesordnung als das bezeichnet, was sie sind, nämlich als nicht-zwingende Regeln privaten Ursprungs. Allerdings spricht diese Qualifikation in keiner Art und Weise gegen den differenzierten Gehalt und die Überzeugungskraft dieser Dokumente, sondern bestätigt, wie eingangs dargelegt, dass diese privatrechtlich gesetzten Normen neben und ergänzend zum staatlichen Recht bestehen können. Soweit der staatliche Gesetzgeber Handlungsbedarf erkennt, kann er Regeln schaffen, die sodann diese privaten Rechtsquellen verdrängen.
Für die Mitglieder der FMH sind die Richtlinien, die übernommen werden, allerdings bindend, auch wenn sie kein staatliches Recht darstellen und Nichtmitglieder nicht direkt verpflichtet werden. Ihre Nichteinhaltung kann nur, aber immerhin, vereinsrechtlich nach den Regeln der Standesordnung sanktioniert werden. Der genannte Entscheid bestätigt diesen längst bekannten Grundsatz und stellt in keiner Weise in Frage, dass die FMH-Richtlinien der SAMW übernehmen und für ihre Mitglieder bindend erklären kann.

Gut zu wissen

Die Leistung von Suizidbeihilfe im medizinischen Umfeld wirft zahlreiche ethische Fragen auf. Diese befinden sich im Spannungsfeld zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der Patientinnen und Patienten einerseits, andererseits auch der Erfordernis, vulnerable Personen zu schützen. Diesen Herausforderungen gerecht zu werden unter der Wahrung der Würde der Patienten erfordert eine grosse ethische Verantwortung seitens der Ärzte und Ärztinnen sowie auch der Pflegenden.
Die SAMW und ihre Zentrale Ethikkommission erstellen Richtlinien, die als «medizinisch-ethischer Kompass» für die medizinische Praxis und die biomedizinische Forschung dient.
Im Jahre 1976 fokussierten die ethischen Richtlinien der SAMW sich vorerst auf den Behandlungsabbruch und das Verbot der aktiven Sterbehilfe. 2004 wurde dann auch die Möglichkeit der Suizidhilfe für Personen am Lebensende in die ethischen Richtlinien der SAMW aufgenommen. Diese Richtlinien «Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende» wurden 2005 in die FMH-Standesordnung aufgenommen.
2018 erfuhren die Richtlinien eine umfassende Revision und sind nun unter dem Titel «Umgang mit Sterben und Tod» zusammengefasst. In ihrer ersten Version hatte die Ärztekammer die Übernahme dieser Richtlinien in das ärztliche Standesrecht zunächst abgelehnt, weil ihr die Bestimmung zur ärztlich assistierten Suizidhilfe zu unbestimmt war. Das Kapitel über die Suizidbeihilfe wurde 2021 überarbeitet. Diese letzte Version wurde 2022 in die Standesordnung der FMH aufgenommen und gilt somit unmittelbar für alle Mitglieder der FMH.
Prof. Dr. iur. Thomas Gächter
Lehrstuhl für Staats-, Verwaltungs- und Sozialversicherungsrecht an der Universität Zürich und Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich
thomas.gaechter[at]ius.uzh.ch