Für bessere Behandlungsempfehlungen

Organisationen
Ausgabe
2024/03
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2024.1340312205
Schweiz Ärzteztg. 2024;105(03):34-37

Affiliations
a Prof. Dr. med., Präsidentin Qualitätskommission SGAIM und Chefärztin Departement Innere Medizin, Kantonsspital Baden
b Qualitätskommission SGAIM
c Co-Präsidentin SGAIM
d Qualitätskommission SGAIM

Publiziert am 17.01.2024

Qualität
Klinische Guidelines definieren die Goldstandards der Diagnostik und Behandlung und sollen zusammen mit der ärztlichen Erfahrung für höchste Behandlungsqualität sorgen. Paradoxerweise zeigen Analysen, dass die Qualität und Implementierung dieser Guidelines substantieller Verbesserungen bedürfen. Die SGAIM Qualitätskommission zeigt auf, wie man sie optimieren kann.
Klinische Guidelines wurden ursprünglich entwickelt, um den Entscheidungsprozess in Kombination mit der Erfahrung und dem Wissen des Arztes oder der Ärztin zu unterstützen [1]. Heute dienen klinische Guidelines, Leitlinien oder Empfehlungen (nachfolgend «Guidelines» genannt) einem breiteren Zweck und werden von verschiedenen Stakeholdern (Ärzten, Versicherungen, medikolegalen Fragen etc.) verwendet. Guidelines gelten als Massstab für den aktuellen Stand des Wissens in der Abklärung und Behandlung von Erkrankungen. Nichtbefolgen der Empfehlungen muss daher nicht selten gerechtfertigt werden. Da sie in vielen Situationen als übergeordnete Empfehlung mit bindendem Charakter angesehen werden, gelten für Guidelines hohe Standards an die Qualität. Dessen ungeachtet werden heute viele Guidelines verschiedener Fachgesellschaften publiziert, die anerkannte Qualitätsanforderungen nicht erfüllen, und häufig basiert die zugrunde liegende Evidenz auf Expertenmeinungen [2]. Analysen der Qualität von Guidelines zeigten einen substantiellen Verbesserungsbedarf.
Guidelines und Umsetzungstools sollen die klinische Arbeit unterstützen, ohne den administrativen Aufwand zu vergrössern.
© Nichapa Srimai / Dreamstime

Teilweise dienen die Guidelines dazu, Interessen einzelner Fachbereiche durchzusetzen, und führen nicht selten zu einer Zunahme an Bürokratie.

Besonders häufig wird die zugrundeliegende Evidenz für Empfehlungen (oder deren Mangel) ungenügend diskutiert, der Entwicklungsprozess und Interessenskonflikte nicht transparent dargelegt und die Relevanz für Patienten und Fragen der Implementierung zu wenig berücksichtigt [2]. Teilweise dienen die Guidelines dazu, Interessen einzelner Fachbereiche durchzusetzen, und führen nicht selten zu einer Zunahme an Bürokratie ohne klinischen Mehrnutzen [3]. Zudem werden oft die Problematik der Mehrfacherkrankungen bei multimorbiden Patienten sowie die Patientenperspektive nicht oder nur ungenügend diskutiert. Eine weitere Problematik ist, dass für die gleiche Erkrankung verschiedene Fachgesellschaften eine Guideline erarbeiten – mit teilweise voneinander abweichenden Empfehlungen. Beispielsweise erarbeiten für die Behandlung der arteriellen Hypertonie die Gesellschaften für Kardiologie, Hypertonie, Nephrologie und Endokrinologie/Diabetes voneinander unabhängige Guidelines. Häufig sind die Empfehlungen zudem nicht praktikabel. Eine Analyse der NICE-Guideline zu Lifestyleinterventionen zeigte, dass die Umsetzung aller Empfehlungen siebenmal mehr Grundversorger und fünfmal mehr Pflegefachpersonen benötigen würden als heute im Vereinigten Königreich arbeiten [4].
Des Weiteren beeinflusst die Zusammensetzung der Mitglieder einer Guideline-Entwicklungsgruppe die Empfehlungen [5]. Beispielsweise empfehlen Ärzte, die einen invasiven Eingriff selber durchführen, diesen häufiger als Ärzte, die einen Eingriff nicht durchführen. Zudem sind Guidelines durch multidisziplinäre Gruppen häufiger zurückhaltender formuliert und berücksichtigen mehr Aspekte als unidisziplinär entwickelte Guidelines [5]. Eine Analyse zeigte, dass meist 3-5 relevante Disziplinen in den Entwicklungsgruppen vertreten sind und klinische Disziplinen typischerweise durch Subspezialisten sowie Generalisten vertreten sind [6].

Das Ziel von klinischen Guidelines

Das fundamentale Ziel einer klinischen Praxisguideline ist die Verbesserung der Praxisstandards basierend auf Empfehlungen, denen qualitativ hochstehende Evidenz zugrunde liegt. Guidelines für das Reporting von Studien und klinischer Guidelines hat zu einer Qualitätsverbesserung geführt [7]. Klinische Guidelines sollen die Evidenz in anwendbare Empfehlungen formulieren. Da für viele klinische Fragestellungen qualitative hochstehende Evidenz (in der Regel randomisierte kontrollierte Studien) fehlt oder unvollständig ist, ist der Einfluss von Expertenmeinungen häufig sehr gross. Die Ziele von Expertenpanels und die Beurteilung was Best Practice ist, sind nicht immer im Einklang mit den Zielen von Klinikern, Patienten und der Gesellschaft [3]. In Guidelines sollten daher nicht nur die Wirksamkeit, sondern auch Aspekte der Effizienz und Ökonomie diskutiert werden [8].

Standards zur Entwicklung von Guidelines

Es besteht ein internationaler Konsens, dass der Entwicklung sowie der Darstellung von Guideline-Empfehlungen ein systematischer und transparenter Prozess zugrunde liegen sollte. Bereits 2003 wurde die AGREE-Empfehlung (Appraisal of Guidelines, Research and Evaluation, heute AGREE II) publiziert [9], die weitverbreitet zur Beurteilung der Qualität von Guidelines verwendet wird. Dabei wird die Stärke der Empfehlung mit dem GRADE-Ansatz (Grading of Recommendations, Assessment, Development and Evaluations) quantifiziert, was es erlaubt, schnell und einfach die Qualität der Studienlage und die Stärke einer Empfehlung zu erfassen. Weiter wurde 2017 die RIGHT-Checkliste (Reporting Items for practice Guidelines in Healthcare) publiziert [10]. Inhalte der RIGHT-Checkliste sind beispielsweise: Hintergrund (Zielpopulation, Leitlinienentwicklungsgruppe), Methode der Literaturanalyse und Beurteilung der Evidenz, eindeutige und genaue Empfehlungen mit gesonderten Empfehlungen für Subpopulationen, Finanzierung und Interessenskonflikte, Evidenzlücken und Limitationen. Darüber hinaus sollen Guidelines extern durch relevante Stakeholder begutachtet und deren Kommentare bei der Erarbeitung berücksichtigt werden.

Best Practices folgen

Das Institute of Medicine publizierte Best Practices für die Entwicklung von Guidelines, damit komplexe wissenschaftliche Studien in Empfehlungen umgewandelt werden, die bei jeder Patienteninteraktion relevant sind und Ärzten sowie Patienten im Entscheidungsprozess helfen [6]. Die Best Practices beinhalten Empfehlungen zu Transparenz und Management von Interessenskonflikten, Zusammensetzung der Guideline-Entwicklungsgruppe, systematische Analyse der Literatur, einen klaren Anwendungsbereich (Scope) der Guideline als Voraussetzung für eine logische Argumentation, die Grundlagen zur Gradierung der Empfehlung und der Formulierung von Empfehlungen, einen externen Review durch die relevanten Stakeholder (Tabelle 1).

Gute Beispiele

Die Qualitätskommission der SGAIM rät dazu, bei der Entwicklung von klinischen Guidelines etablierten Empfehlungen zu folgen [6, 9, 10]. Transparente, multidisziplinär entwickelte Guidelines erhöhen das Vertrauen (Tabelle 2). Neben den Fragen der Wirksamkeit bei verschiedenen Patientenpopulationen soll auch die Effizienz und die Patientenperspektive berücksichtigt werden. Dadurch werden auch nichtärztliche Stakeholder, die klinische Guidelines verwenden (zum Beispiel Versicherungen und bei medico-legalen Fragen) auf die Unsicherheiten und Fragen der Patientenpräferenzen aufmerksam gemacht. Das Ziel klinischer Guidelines ist, basierend auf der wissenschaftlichen Evidenz sowie der ärztlichen Erfahrung eine qualitativ hochwertige Patientenbetreuung zu ermöglichen. Dabei muss vermieden werden, dass Guidelines dazu dienen, die Bürokratie und den administrativen Aufwand zu vergrössern, ohne einen klinischen Nutzen zu erbringen. Guidelines sollten die Arbeit in der Klinik erleichtern und nicht zunehmend mehr Ressourcen beanspruchen.

In Guidelines sollten nicht nur die Wirksamkeit, sondern auch Aspekte der Effizienz und Ökonomie diskutiert werden.

Sind nationale Guidelines erwünscht, die Schweizer Gegebenheiten berücksichtigen, ist eine Finanzierung durch den Bund unumgänglich. Der Einfluss der Industrie auf den Inhalt von Praxisempfehlungen ist gut dokumentiert und kann nur durch unabhängige Finanzierung vermindert werden [11]. Gute Beispiele von evidenzbasierten klinischen Guidelines sind die NICE-Guidelines, die durch unabhängige Expertengremien und unter Einbezug aller wichtigen Stakeholder entwickelt wurden [12]. Ebenfalls gute Beispiele sind die Guidelines der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie (ESC), die in ihren Empfehlungen viele verschiedene klinische Szenarien und Begleiterkrankungen berücksichtigen und die Empfehlungen differenzieren [13]. Wichtig ist, dass Empfehlungen auch in der Praxis umgesetzt werden können, die Finanzierung geklärt und keine unrealistischen Anforderungen an das Fachpersonal stellt [4]. Fachgesellschaften sind aufgerufen, bei der Entwicklung von Guidelines alle wichtigen Stakeholder zu involvieren, den Best Practices zu folgen, den Entwicklungsprozess transparent darzustellen und externe Reviews einfliessen zu lassen. Schlussendlich sollen Guidelines und Umsetzungstools die klinische Arbeit unterstützen, ohne den administrativen Aufwand zu vergrössern. Vor dem Hintergrund des Hausärzte- und Pflegepersonalmangels sollen klinische Guidelines die bestehenden Ressourcen unterstützen und nicht zusätzlich belasten.

Kommentar

Medizinische Guidelines sind systematisch entwickelte Aussagen, die der Ärzteschaft helfen, im Interesse der bestmöglichen Behandlung ihrer Patienten evidenzbasierte Entscheidungen zu treffen. Die stetige Zunahme von Guidelines erschwert die Überschaubarkeit des Angebots und qualitativ schlechte Guidelines können sich negativ auf die Behandlungsqualität auswirken.
Die kritische Auseinandersetzung mit den Qualitätsmerkmalen von Guidelines ist zentral. In diesem Sinn nutzt die FMH die Gelegenheit auf die Online-Plattform «Guidelines Schweiz» der FMH aufmerksam zu machen. Seit 2017 dokumentieren Fachgesellschaften, Spitäler/Kliniken und weitere Organisationen im Gesundheitswesen, die von ihnen anerkannten Guidelines auf der Online-Plattform «Guidelines Schweiz». Die aktuell über 240 Guidelines auf der Online-Plattform sind einheitlich strukturiert und enthalten Informationen zu den international anerkannten Qualitätskriterien (Evidenzlevel, Interessenbindungen, Patienteneinbezug, Finanzierung, Zusammensetzung der Kommissionsmitglieder, Methoden zur Formulierung etc.).
In der Position der FMH «Medizinische Guidelines: Voraussetzungen und Anwendung», dem Grundlagenpapier «Guidelines – Qualitätsmerkmale erkennen» sowie auf der Website der FMH finden Sie weitere Informationen zum Thema Guidelines und Smarter Medicine.
Dr. med. Christoph Bosshard, Vizepräsident FMH, Departementsverantwortlicher DDQ
Dr. sc. ETH Stefanie Hostettler, Expertin DDQ
Maria.Wertli[at]ksb.ch
1 Greenfield S. JAMA February 14, 2017 Volume 317, Number 6 (Reprinted
Qualität von Guidelines Tokalić R, 2020 J Gen Intern Med 35, 2167–2172
2 Florez, I.D., Brouwers, M.C., Kerkvliet, K. et al. Assessment of the quality of recommendations from 161 clinical practice guidelines using the Appraisal of Guidelines for Research and Evaluation–Recommendations Excellence (AGREE-REX) instrument shows there is room for improvement. Implementation Sci 15, 79 (2020)
3 Greenfield S. Clinical Practice Guidelines: Expanded Use and Misuse. JAMA. 2017;317(6):594–595. doi:10.1001/jama.2016.19969
4 Albarqouni L, Montori V, Jørgensen KJ, Ringsten M, Bulbeck H, Johansson M. Applying the time needed to treat to NICE guidelines on lifestyle interventions. BMJ Evid Based Med. 2023 Oct;28(5):354-355. doi: 10.1136/bmjebm-2022-112225. Epub 2023 May 24. PMID: 37225391.
5 Hutchings A, Raine R. A systematic review of factors affecting the judgments produced by formal consensus development methods in health care. J Health Serv Res Policy. 2006 Jul;11(3):172-9.
6 Clinical Practice Guidelines We Can Trust; Institute of Medicine (US) Committee on Standards for Developing Trustworthy Clinical Practice Guidelines; Editors: Robin Graham, Michelle Mancher, Dianne Miller Wolman, Sheldon Greenfield, and Earl Steinberg. 2011. ISBN-13: 978-0-309-16422-1ISBN-13: 978-0-309-16423-8 https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK209539/
7 Burgers JS, Grol R, Klazinga NS, Mäkelä M, Zaat J; AGREE Collaboration. Towards evidence-based clinical practice: an international survey of 18 clinical guideline programs. Int J Qual Health Care. 2003 Feb;15(1):31-45. doi: 10.1093/intqhc/15.1.31. PMID: 12630799.
8 Ramsey SD. Economic analyses and clinical practice guidelines: why not a match made in heaven? J Gen Intern Med. 2002 Mar;17(3):235-7. doi: 10.1046/j.1525-1497.2002.20110.x. PMID: 11929511; PMCID: PMC1495017.
9 AGREE Collaboration. Development and validation of an international appraisal instrument for assessing the quality of clinical practice guidelines: the AGREE project. Qual Saf Health Care. 2003 Feb;12(1):18-23. doi: 10.1136/qhc.12.1.18. PMID: 12571340; PMCID: PMC1743672.
10 Chen Y, RIGHT (Reporting Items for Practice Guidelines in Healthcare) Working Group, das RIGHT-Statement, Z Evid Fortbild Qual Gesundhwes. 2017 Nov;127-128:3-10.
11 Elder K, Turner KA, Cosgrove L, Lexchin J, Shnier A, Moore A, Straus S, Thombs BD. Reporting of financial conflicts of interest by Canadian clinical practice guideline producers: a descriptive study. CMAJ. 2020 Jun 8;192(23):E617-E625. doi: 10.1503/cmaj.191737. PMID: 32538799; PMCID: PMC7867217.
12 Evidence-based recommendations for the health and social care sector, developed by independent committees, including professionals and lay members, and consulted on by stakeholders, https://www.nice.org.uk/guidance
13 ESC, Clinical Practice Guidelines https://www.escardio.org/Guidelines/Clinical-Practice-Guidelines

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