Wenn Pflegende nur noch temporär arbeiten

Wenn Pflegende nur noch temporär arbeiten

Coverstory
Ausgabe
2024/06
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2024.1341281699
Schweiz Ärzteztg. 2024;105(06):12-15

Publiziert am 07.02.2024

Arbeitsmarkt
Mit der zunehmenden Arbeitsbelastung wollen sich immer mehr Pflegende nicht mehr fest anstellen lassen. In den Institutionen wird Temporärarbeit nicht gern gesehen. Doch die Entwicklung hat einiges in Bewegung gesetzt.
Gegen Nachtschichten hat Bianca Kraus generell nichts einzuwenden. Doch als die Pflegefachfrau im Aufwachraum des Universitätsspitals Zürich (USZ) arbeitete, erhielt sie nach fünf bis sechs Nächten jeweils nur eineinhalb Freitage und musste dann schon wieder für den Frühdienst antreten. «Das hat mich geschlaucht», sagt die 37-Jährige. Sie habe jeweils die ganzen freien Tage durchgeschlafen.
Dies war einer der Gründe, weshalb sie sich vor vier Jahren für die Temporärarbeit entschied. Zunächst behielt sie eine Festanstellung von 60% bei und arbeitete zusätzlich im Pool der Klinik Hirslanden oder über eine Vermittlungsfirma. Seit letztem Sommer setzt sie nun vollständig auf das temporäre Arbeitsmodell. «Vielerorts treffe ich auf Teams mit häufigem Personalwechsel und vielen, die wenig Deutsch sprechen. Da passieren oft Fehler.» Unter diesen Umständen möge sie sich nicht voll auf ein Team einlassen. Zudem schätze sie die Abwechslung.

Der Anteil von Temporärarbeit in der Pflege ist gestiegen, liegt aber unter demjenigen im Gesamtarbeitsmarkt.

Kraus ist bei der Stellenvermittlungsfirma Carepeople unter Vertrag. Zu Beginn habe sie jeweils auf der App eingetragen, an welchen Tagen sie arbeiten kann. Oft bot sie sich auch für Spät- und Nachtdienste an. So wurde sie oft tageweise von diversen Spitälern gebucht und arbeitete mal da, mal dort. Seit etwa einem Jahr würden die Institutionen aber Temporäre lieber für längere Perioden einsetzen, macht Kraus die Erfahrung. Seit dem Oktober arbeitet sie nun im Universitätsspital Zürich auf der Abteilung für Stammzellentherapie, voraussichtlich noch bis im März.

Andere Branchen haben mehr

Temporärarbeit in der Pflege ist ein umstrittenes Thema. Seit der Pandemie und dem gestiegenen Personalmangel hat sich das Modell stark verbreitet, liegt aber gemäss Erhebungen des Personaldienstleisterverbands Swissstaffing mit einem Anteil von 2,2% immer noch unter demjenigen im Gesamtarbeitsmarkt von 2,6%. Doch Temporären geht der Vorwurf des Rosinenpickens voraus, weil sie teilweise Bedingungen bezüglich Arbeitszeiten stellen. Die Festangestellten müssten dann abdecken, was übrig bleibe, lautet die Kritik. Zudem würden Temporäre die prekäre Situation durch unanständige Lohnforderungen ausnutzen und die Kosten in die Höhe treiben.

Mehr Aufwand für Ärzteschaft

Auch die FMH steht der Praxis kritisch gegenüber: «Temporärarbeitende sind mit der Kultur der Institution nicht vertraut und stellen sich nicht auf eine dauerhafte Zusammenarbeit ein», sagt Präsidentin Yvonne Gilli. Mit einem grösseren Anteil an Temporären sei es kaum möglich, eine positive gemeinsame Arbeitskultur auf der Basis von Beziehung und Vertrauen zu etablieren.
Für die Ärztinnen und Ärzte, die täglich eng mit den Pflegenden zusammenarbeiten, bedeute die Anstellungsform mehr Aufwand. Zudem würden temporäre Anstellungen deutlich mehr kosten, was sich negativ auf die Gesamtheit der Angestellten auswirke, so Gilli weiter. «Den vermehrten und auf die Dauer ausgerichteten Einsatz von temporär Arbeitenden halten wir für problematisch.» Chancen sieht der Verband jedoch, um zeitlich begrenzte Lücken zu schliessen.
Temporärarbeit gebe es zwar auch im ärztlichen Beruf, sagt die Präsidentin, doch das sei wegen der grundsätzlich unterschiedlichen Rahmenbedingungen weit seltener. Während die meisten Pflegefachpersonen eine abgeschlossene Ausbildung haben, befindet sich die Mehrzahl der in Spitälern angestellten Ärztinnen und Ärzte in der Weiterbildung für den Erwerb des Facharzttitels.

Bessere Bedingungen für Festangestellte

Wenig angetan von der Entwicklung ist man auch bei den Spitälern. Das Modell sei zwar schon länger verbreitet und auch sinnvoll, etwa um saisonbedingte Schwankungen aufzufangen, schreibt Caroline Johnson, Mediensprecherin am Universitätsspital Basel (USB). Seit Anfang 2023 sei aber das Ausmass stark gestiegen. «Temporärarbeit konkurrenziert zunehmend die Festanstellungen.» Aufgrund negativer Erfahrungen und unseriöser Praktiken im Bereich der Vermittlung arbeitet das USB mittlerweile nur noch mit wenigen Firmen zusammen und schliesst mit ihnen einen Vertrag ab, der unter anderem die Anforderungen und Weiterbildungspflichten regelt.
Unterdessen konnte das Spital den Einsatz von Temporären wegen wachsenden Interesses an Festanstellungen wieder reduzieren. Dazu tragen verbesserte Anstellungsbedingungen bei. Zum Beispiel werden Nacht- und Wochenenddienste sowie kurzfristiges Einspringen besser vergütet. Weiter hat das USB einen eigenen Pool geschaffen.

Stimmung in Teams leidet

Auch das Kantonsspital Luzern (LUKS) will künftig so weit wie möglich auf Temporäre verzichten. Während man aber im Operationsbereich noch immer stark auf sie angewiesen ist, konnte der Anteil in der Intensiv- und Notfallpflege bereits deutlich reduziert werden. «Festangestellten Mitarbeitenden bleiben oft die unattraktiven Dienste, dafür haben sie zusätzlichen Aufwand für die Einarbeitung», erklärt Michael Döring, Leiter Gruppenbereich Pflege und Soziales. Zudem werde die Wirkung auf den Teamspirit als herausfordernd beschrieben. Das LUKS verfügt über einen grossen Pflegepool und konnte den Anreiz für Festanstellungen unterdessen verstärken, unter anderem mit höheren Zulagen, zusätzlichen Ferientagen, Jobsharing- und Gleitzeitmodellen, halben Diensten oder der Möglichkeit zur Weiterbeschäftigung im Pensionsalter.

Statt in Vermittlungsgebühren sollte Geld in die Verbesserung der Bedingungen für Festangestellte fliessen.

SBK würde Geld lieber anders einsetzen

Der Verband der Schweizer Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK) stört sich ebenfalls an den Mehrkosten aufgrund der Vermittlungsgebühren: «Wir würden es sehr viel lieber sehen, wenn dieses Geld in die Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Festangestellten fliessen würde», hält die stellvertretende Geschäftsführerin Christina Schumacher fest. Die Agenturen würden Pflegende teilweise aggressiv anwerben. Ein grosser Nachteil sei zudem, dass die Kontinuität in der pflegerischen Versorgung schwerer aufrechterhalten werden könne. «Temporäre Mitarbeitende kennen meist die Abläufe und das spezifische Fachgebiet nicht.» Besonders in den Pflegeheimen seien kurze Einsätze der Qualität wenig förderlich: «Es ist schwierig, in so kurzer Zeit eine Beziehung zu den Bewohnerinnen und Bewohner aufzubauen und es fehlt an Zeit, sich eingehend mit ihrer Situation zu befassen.»

Chance für Wiedereinsteigerinnen

Derweil heben die Vermittlungsagenturen erwartungsgemäss die Vorteile von Temporärarbeit hervor. «Mit unseren flexiblen Arbeitsmodellen ermöglichen wir ausgebildeten Fachkräften die Aufrechterhaltung der beruflichen Tätigkeit, respektive den Wiedereinstieg», betont Petra Fischer, stellvertretende Geschäftsleiterin der Firma Careanesth. Die Option, neben Familie und Freizeit zu arbeiten, bringe viele ins Gesundheitswesen zurück oder verhindere zumindest deren Ausstieg.
Modelle des selbstbestimmten Arbeitens seien zudem stabiler, der Zwang zu Schichtbetrieb nicht mehr zeitgemäss, ergänzt Philipp Balscheit von der Firma Coople. Zudem sei es bei knappen Ressourcen nötig, diese möglichst effizient einzusetzen, statt dass jede Institution nur für sich allein Personal suche. Dass Temporärarbeit auch Wiedereinsteigerinnen Chancen bietet, sei auch volkswirtschaftlich von grosser Bedeutung.

Temporärarbeit halte Fachkräfte im Arbeitsmarkt und ermögliche Wiedereinstiege, heisst es bei den Vermittlungsagenturen.

Marge bleibt geheim

Bei einem Anteil von gut 2% der Belegschaft seien die höheren Lohnkosten zudem vernachlässigbar, sagt Balscheit. Wie viel die Agenturen selbst pro Vermittlung verdienen, wollen die angefragten Firmen jedoch nicht offenlegen. Vonseiten Careanesth ist lediglich zu erfahren, dass den Arbeitgebern zwischen 1,3- und 1,4-mal der ausbezahlte Bruttolohn berechnet wird. Bei anderen Firmen soll der Faktor bis zu 1,8 betragen. Darin sind aber auch Ferien, Feiertage, der 13. Monatslohn sowie die Arbeitgeberanteile der Sozialabgaben enthalten. Der Gesamtarbeitsvertrag für den Personalverleih schreibt neben definierten Mindestlöhnen nämlich auch eine Absicherung bei Unfall oder Krankheit sowie Beiträge an die Altersvorsorge vor. Gemäss einer Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) kosten temporäre Vollzeitangestellte im Durchschnitt 11% mehr.

Spitäler bewegen sich unter Druck

Mit den verschiedenen Aspekten der Temporärarbeit in der Pflege befasst sich das Forschungsprojekt CroWiS, an dem drei Hochschulen beteiligt sind. Wie eine Befragung von 600 Pflegepersonen in der Schweiz ergeben hat, kommt es im Alltag zu bis zu einem Drittel kurzfristigen Personalausfällen. 80% davon würden nicht ersetzt, sagt Michael Simon von der Universität Basel, und 20% würden mit Teammitgliedern abgedeckt, die «aus dem Frei» geholt werden. Unter diesem Gesichtspunkt scheint ihm der Einsatz von Temporären immer noch die bessere Lösung. In der Realität habe das Thema sowieso eine weit weniger grosse Bedeutung als in der öffentlichen Wahrnehmung, betont der Professor für Pflegewissenschaft. «Es handelt sich um ein Randphänomen. Abwerbungen sind selten.»
Unter dem Druck der vermehrten Personalknappheit und Abwanderung zu Vermittlungsagenturen habe sich aber bereits einiges zum Besseren gewendet, beobachtet Simon. Zum Beispiel werde jetzt vermehrt über flexiblere Arbeitsmodelle nachgedacht und mancherorts auch über institutionsübergreifende Pools. Weiteres Potenzial sieht er bei der Personalplanung. Die Gesundheitsindustrie habe sich lange nicht damit beschäftigt, wann wie viel Personal benötigt wird. Und erst seit Kurzem nutze man für das Erstellen von Dienstplänen nun endlich auch digitale Tools, bei denen alle ihre Wünsche eintragen können, sagt der Experte. «Die Software spuckt innert Sekunden einen Vorschlag aus, der zu mehr Zufriedenheit führt.»
Derartige Veränderungen wünscht sich auch Susan Elmer schon länger. Die Expertin für Anästhesiepflege arbeitet seit über zehn Jahren ausschliesslich temporär, weil sie gerne längere Reisen unternimmt, und hat sich 2019 sogar selbstständig gemacht. Zwischen den Reisen arbeitet sie immer wieder hochprozentig für mehrere Monate in einer Klinik und leistet daneben tageweise ambulante Einsätze bei Anästhesien in Zahnarztpraxen. Zurzeit hilft sie im Spital Bülach aus. «Ich decke alle Dienste ab», betont die 45-Jährige. «Wenn zum Beispiel das Ops-Fest ansteht, mache ich auch mal Spätdienst, damit die anderen zusammen feiern können.»
7.2.2024: Dieser Artikel wurde nach der Veröffentlichung korrigiert.