Die unterschätzte Macht der Gene

Die unterschätzte Macht der Gene

Interview
Ausgabe
2024/07
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2024.1344438426
Schweiz Ärzteztg. 2024;105(07):18-22

Publiziert am 14.02.2024

Immunologie
Neue Erkenntnisse verändern unser Verständnis des Immunsystems. Dazu hat auch die COVID-19-Pandemie beigetragen. Immunologe Mike Recher vom Universitätsspital Basel und der Universität Basel gibt Einblick in die Immunologie der Gegenwart – und der Zukunft.
Mike Recher, Ihr Forschungsschwerpunkt ist der Zusammenhang von Genetik und Immunsystem. In der Klinik behandeln Sie vor allem Personen mit Immunschwächen und Autoimmunerkrankungen. Sind das Personen, deren Immunsystem entweder zu schwach oder zu stark reagiert?
Prof. Dr. med. Mike Recher ist Leitender Arzt und stellvertretender Leiter des Universitären Zentrums für Immunologie am Universitätsspital Basel. Zudem leitet er an der Universität Basel eine Forschungsgruppe, die sich mit angeborenen Immunschwächen beschäftigt. Ziel seines Teams ist es, neue Krankheiten molekularbiologisch zu identifizieren und neue Diagnostika und zielgerichtete immunologische Therapien zu entwickeln.
© Christian Jaeggi
Das hat man früher so betrachtet. Inzwischen können wir ein differenzierteres Bild zeichnen. Wir sprechen heute grundsätzlich von Immundysregulationen, also Störungen in der Funktionsweise des Immunsystems. Diese können genetische oder andere Ursachen haben und sich auf zwei Arten auswirken: erstens als Problem der Immunkompetenz, sprich der Abwehr von Pathogenen. Zweitens kann es sich als mangelnde Immuntoleranz respektive Autoimmunität zeigen – das Immunsystem kann nicht genügend zwischen eigen und fremd unterscheiden und greift deshalb körpereigene Strukturen an.
Das hat nichts mit schwachem oder starkem Immunsystem zu tun?
Nein. Auch eine Autoimmunkrankheit ist eigentlich eine Schwäche des Immunsystems, indem eben eine Immuntoleranzstörung vorliegt. Und vor allem ist das Ganze kein «entweder – oder». Autoimmunität ist nicht das Gegenteil von Immunschwäche. Viele Betroffene haben gleichzeitig Probleme mit der Immunkompetenz wie auch mit der Immuntoleranz [1].

Die allgemeine Aussage, eine Person habe ein gutes oder schlechtes Immunsystem, muss relativiert werden.

Welche praktischen Konsequenzen hat dieses neue Verständnis?
Es bedeutet für uns Immunologen, dass wir primär nach der molekularen Ursache der Immundysregulation suchen müssen. Wenn wir diese finden, können wir oft beide Arten von Auswirkungen gleichzeitig beheben. Wobei sich auch die Suche nach den Ursachen im Vergleich zu früher stark verändert hat.
Inwiefern?
Bisher wurden immunologische Krankheiten hauptsächlich aufgrund klinischer Symptome definiert. Heute interessieren uns wie erwähnt vor allem die molekularbiologischen Wirkmechanismen, die gestört sind. Das ist wichtiger als der Name einer Krankheit.
Was weiss man heute über die genetischen Ursachen von Immunstörungen?
Von den rund 20 000 Genen eines Menschen sind etwa 4000 relevant für unser Immunsystem. Wir erkennen zunehmend die starke genetische Prägung unseres Immunsystems. In den 1950er Jahren entdeckte man die erste genetisch bedingte Immunstörung. Heute sind bereits rund 600 Formen bekannt. Und es werden laufend mehr. Unsere Forschung legt nahe, dass vermutlich die meisten Menschen schon bei der Geburt bis zu zehn Mutationen haben, die für das Immunsystem relevant sind [2].
Die Mehrheit der Menschen hat somit eine Immunstörung?
Eine immunrelevante Mutation bedeutet nicht, dass wir alle krank sind oder deswegen krank werden. Aber sie zeigt, dass jeder Mensch individuelle Schwachstellen hat. Die einen erleiden deswegen regelmässige Infektionen. Andere werden vielleicht erst mit 80 Jahren mit einem Erreger konfrontiert, der ihr Immunsystem überfordert und eine Lungenentzündung verursacht. Aber die allgemeine Aussage, eine Person habe ein gutes oder schlechtes Immunsystem, muss relativiert werden. Wenn früher jemand immer wieder Infektionen hatte, sagte man, die Person sei anfällig. Heute schauen wir genauer hin: Warum hat jemand zum Beispiel immer bakterielle Infekte, aber kaum je virale? Welche Besonderheiten im Immunsystem können wir entdecken?

Unsere Forschung legt nahe, dass vermutlich die meisten Menschen schon bei der Geburt bis zu zehn Mutationen haben.

Gibt es Schätzungen, wie viele Menschen tatsächlich immunologisch krank sind oder Gefahr laufen, zu erkranken?
Aktuelle Studien zeigen, dass rund 10% der Bevölkerung eine Autoimmunerkrankung haben [3]. Insgesamt haben schätzungsweise 20% eine Störung in der Immunregulation. Also nicht nur eine genetische Mutation, sondern effektiv eine eingeschränkte Immunkompetenz oder -toleranz.
Tendenz zunehmend?
Nicht grundsätzlich. Gewisse Autoimmunkrankheiten nehmen zu, andere nicht. Warum das so ist, wissen wir nicht. Klar ist: Immunologische Krankheiten werden heute noch immer ungenügend diagnostiziert.
Wie gut kann den Betroffenen geholfen werden?
Die Möglichkeiten verbessern sich laufend. Die Entwicklung geht in Richtung personalisierte Medizin. Das ist umso wichtiger, weil wir es in der Immunologie fast ausschliesslich mit seltenen und damit sehr individuell ausgeprägten Krankheiten zu tun haben. Immer häufiger kommt deshalb die genetische und molekularbiologische Diagnostik zum Einsatz. Je genauer wir dabei Ursachen für Störungen finden, desto eher können wir eine zielgerichtete personalisierte Therapie anbieten. Solche Behandlungen stehen zunehmend zur Verfügung.
Was sind das für Therapien?
Früher war Kortison erste Wahl als Therapeutikum in der Immunologie. Es ist zwar immer noch wichtig, gerade als Ersttherapie. Wegen seiner Nebenwirkungen wollen wir es aber möglichst bald durch eine Zweittherapie ablösen. Dabei stehen heute Biologika als zielgerichtete therapeutische Antikörper im Vordergrund. Auch neuere kleinmolekulare Medikamente als Tabletten wirken zielgerichtet. Sehr aufwendig und teuer sind moderne immunologische Zelltherapien, die teilweise auch bei fortgeschrittenen Krebsstadien wirken. Der Anteil an zielgerichtet behandelten immunologischen Patientinnen und Patienten liegt aktuell wohl noch unter 50%, steigt aber laufend.
Ändert sich die Behandlung allgemein dahingehend, dass heute eher versucht wird, das Immunsystem zu stärken als den Erreger zu bekämpfen?
Therapien zur Stärkung des Immunsystems haben tatsächlich einen grossen Aufschwung erfahren. Das hat unter anderem mit dem Paradigmenwechsel «vom Pathogen zum Host» zu tun [4]. Die Frage ist ja: Warum erkranken bei demselben Erreger nicht alle Menschen, die sich damit infizieren? Heute wissen wir, dass nicht die infektiöse Dosis dabei ausschlaggebend ist, sondern primär das Immunsystem des Menschen. Dieses zu stärken ist deshalb mindestens so wichtig wie die Bekämpfung eines Erregers. Zum Beispiel können Impfungen die Immunabwehr verbessern und Immunglobulin-Ersatztherapien helfen bei Antikörpermangel.
Immunologische Krankheiten werden heute noch immer ungenügend diagnostiziert.
© Christian Jaeggi
Was ist mit der Gentherapie? Wird diese in Zukunft der Schlüssel zur Heilung sein?
Die Gentherapie ist theoretisch prädestiniert, um angeborene immunologische Krankheiten zu heilen. Sie wird zum Teil auch schon erfolgreich angewandt. Allerdings ist sie sehr aufwendig und nicht ohne Risiko. Wir müssen dazu Stammzellen gentechnisch verändern und die bisherigen Stammzellen der erkrankten Person zerstören, um Platz zu schaffen für die «reparierten» Stammzellen. Bei gewissen Krankheiten wird es wohl auch in Zukunft einfacher sein, mit möglichst zielgerichteten Therapien die Mechanismen des Immunsystems zu beeinflussen, ohne eine zugrundeliegende genetische Störung zu beheben. Zudem sind nicht bei allen Patientinnen und Patienten die krankmachenden Mutationen bekannt.
Welche anderen Entwicklungen sehen Sie in der Immunologie?
Ich gehe davon aus, dass es dank Forschung inklusive Bioinformatik und Künstlicher Intelligenz möglich werden wird, das Immunsystem noch besser zu verstehen und zu simulieren. Die breite genetische Sequenzierung wird in wenigen Jahren Standard sein. Mit dem grösseren Wissen über die Mechanismen von Infektion und Abwehr werden wir viele Störungen gezielter behandeln können. Und beispielsweise auch gezielter vulnerable Personen schützen können – etwa in einer Pandemie. Ich hoffe, wir werden zentrale noch offene Fragen der Immunologie in Zukunft beantworten können.

Die Frage ist: Warum erkranken bei demselben Erreger nicht alle Menschen, die sich damit infizieren?

Welche Fragen sind das?
Grundsätzlich geht es darum, das überaus komplexe Zusammenspiel der verschiedenen Faktoren des Immunsystems besser zu verstehen. So haben Immunzellen einen eigenen Metabolismus, der durch Medikamente beeinflussbar ist – dadurch lässt sich die Immunabwehr verbessern. Zudem gibt es regulatorische Immunzellen, welche prinzipiell Autoimmunprozesse stoppen können. Wie können wir diese Zellen beeinflussen? Eine interessante Frage ist auch: Warum lösen identische Mutationen in immunrelevanten Genen unterschiedliche Krankheiten aus oder treten bei verschiedenen Menschen unterschiedlich oder gar nicht in Erscheinung? Bei dieser sogenannten genetischen Penetranz spielen Faktoren wie die Epigenetik und wohl auch der Lebensstil eine wichtige Rolle, die es noch besser zu verstehen gilt.
Sie haben Pandemien erwähnt. Inwiefern hat die Coronapandemie in der Immunologie Spuren hinterlassen?
Wichtig war unter anderem, dass man anhand von COVID-19 einen neuen, bedeutenden Krankheitsmechanismus entdeckt hat. Man fand bei hospitalisierten COVID-19-Patienten – insbesondere bei Personen über 60 Jahren – Antikörper gegen die eigenen Botenstoffe des Immunsystems [5]. Dadurch konnten diese Personen die Viren nicht frühzeitig bekämpfen. Waren die Erreger einmal im ganzen Körper verteilt, reagierte das Immunsystem verspätet über und es kam zu Pneumonien. Rund ein Fünftel der Lungenentzündungen bei COVID-19 geht auf diesen Mechanismus zurück. Ob jemand solche Antikörper bildet, war damit viel entscheidender für den Krankheitsverlauf als etwa Übergewicht oder das Alter an sich. Ausgehend von dieser neuen Entdeckung untersuchten Forschende anschliessend auch andere Krankheiten auf diesen Mechanismus.
Wurden sie fündig?
Ja. Denselben Effekt gibt es auch bei schweren Verläufen von Influenza und Erkrankungen aufgrund des West-Nil-Virus [6, 7]. So konnte dank dem Wissen aus der Pandemie eine neue Gruppe von Immunstörungen definiert werden. Das Problem ist, dass Tests zur Messung solcher immunschwächenden Antikörper noch nicht klinische Routine sind, sondern erst im Rahmen von Forschung zur Verfügung stehen. Hoffentlich wird sich das bald ändern.
Worauf sollten Ärztinnen und Ärzte aufgrund der neuen Erkenntnisse im Bereich der Immunologie bei ihren Patientinnen und Patienten achten?
Typisch für angeborene Immunstörungen sind Infekte der Atemwege wie Bronchitis, Nasennebenhöhlenentzündungen oder Lungenentzündung. Ich empfehle, bei Personen mit wiederholten Infekten oder hartnäckigen Krankheitsverläufen den Abwehrkörper-Status zu messen. Obwohl günstig, geschieht das bisher zu selten. Denn eine Immunglobulin-Ersatztherapie ermöglicht Patientinnen und Patienten mit Antikörpermangel eine massive Verbesserung ihrer Lebensqualität. Wichtig ist zu bedenken, dass viele angeborenen Immunschwächen sich erst im Erwachsenenalter zeigen. Es lohnt sich, bei Infektneigung und Autoimmunität genau hinzuschauen, denn die therapeutischen Möglichkeiten werden laufend besser. Die Immunologie kann heute auch immer öfter Therapien zur Verfügung stellen für nicht immunologische Krankheiten – etwa bei Migräne oder Krebs. Das Immunsystem beeinflusst alle Organe.