«Es findet keine Selbstregulierung statt»

«Es findet keine Selbstregulierung statt»

Interview
Ausgabe
2024/16
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2024.1384099754
Schweiz Ärzteztg. 2024;105(16):

Publiziert am 17.04.2024

Präsidiumswechsel
Die interkantonale Planung der hochspezialisierten Medizin (HSM) ist komplex und umstritten. Das HSM-Fachorgan soll deshalb Klarheit schaffen und Empfehlungen erarbeiten. Keine einfache Aufgabe. Martin Fey, der abtretende Präsident, und seine Nachfolgerin Barbara Tettenborn über Selektionskriterien, Datenregister – und über Spitäler, die sich um Zuteilungsentscheide foutieren.
Martin Fey, Sie waren zehn Jahre lang Mitglied des HSM-Fachorgans, davon sieben Jahre als Präsident. Nun geben Sie das Amt ab. Weshalb ist jetzt der richtige Zeitpunkt?
Prof. Dr. med. Barbara Tettenborn ist Fachärztin für Neurologie und Chefärztin des Zentrums für neurologische Präventivmedizin und Sportneurologie der Bellevue Medical Group in Zürich. Zuvor war sie 24 Jahre lang Chefärztin der Klinik für Neurologie mit klinischer Neurophysiologie und Schlafmedizin am Kantonsspital St. Gallen. Sie übernimmt das Präsidium des HSM-Fachorgans per 19. April 2024.
Prof. em. Dr. med. Martin Fey ist Facharzt für Innere Medizin und medizinische Onkologie und leitete fast 25 Jahre lang die Universitätsklinik für medizinische Onkologie am Inselspital in Bern. Er präsidierte das HSM-Fachorgan seit März 2017.
Martin Fey: Ich habe meinen Rücktritt schon vor mehr als einem Jahr angekündigt. Man sollte kein Sesselkleber sein bei derartigen Positionen.
Barbara Tettenborn, Sie sind seit 2015 Fachorgan-Mitglied. Weshalb ist für Sie jetzt der richtige Zeitpunkt, das Präsidium zu übernehmen?
Barbara Tettenborn: Ich bin gut eingearbeitet und habe mich an die politisch geprägte Planung der HSM gewöhnt. Zudem bin ich hoch motiviert und kann mir jetzt die Zeit für dieses wichtige Amt nehmen.
Die interkantonale HSM-Planung sieht vor, seltene, komplexe und teure Therapien und Interventionen nur von wenigen Kompetenzzentren in der Schweiz durchführen zu lassen. Braucht es solche staatlichen Eingriffe?
Barbara Tettenborn: Der Vorwurf, die HSM-Zuteilung sei rein politische Handhabe, kommt immer wieder. Tatsächlich geht es stets um eine Verbesserung der Patientenversorgung. Wer keine Kenntnis der medizinischen Landschaft hat, kann nicht unterscheiden, wo er oder sie eine gute Behandlung erhält und wo nicht. Es ist unsere Aufgabe, die Qualität zu sichern.
Martin Fey: Ein Beispiel: Wir haben die sehr komplexe Behandlung von Zervix-, Vulva- und Vaginakarzinomen der HSM zugeordnet. Sie wurde schweizweit an 77 Spitälern durchgeführt, in einem Drittel aber nur zwei Mal pro Jahr. Das kann man einfach nicht vertreten.
Weil die Behandlungsqualität in Spitälern mit weniger Fällen tiefer ist?
Martin Fey: Ja. In praktisch allen Gebieten gibt es sehr gute Studien, wonach Fallzahlen und Qualität eng korrelieren. Wir müssen eine Regulierung vornehmen, weil keine Selbstregulierung stattfindet. Eine Chirurgin oder ein Chirurg könnte ja sagen: Vielleicht ist es nicht so klug, dass ich zwei Pankreatektomien pro Jahr mache. Aber solche Selbstkritik ist leider nicht immer vorhanden.

Prof. em. Dr. med. Martin Fey

Abtretender Präsident HSM-Fachorgan

Wir regulieren bloss ein bis zwei Prozent der Interventionstypen, die in einer Fachklinik, durchgeführt werden.

Woran liegt das?
Barbara Tettenborn: Oft geht es ums Renommee. Man will nicht nur die einfachen Eingriffe durchführen.
Wie entscheidet sich, ob eine Intervention der HSM zugeordnet wird?
Barbara Tettenborn: Der wichtigste Punkt ist: Es muss ein seltener Bereich sein. Zudem muss es sich um ein anspruchsvolles, komplexes Behandlungsverfahren mit hohem Innovationspotential, hohem personellen oder technischen Aufwand und hochgradiger Interaktion verschiedener Spezialisten handeln.
Wie läuft die Zuteilung an spezialisierte Zentren ab?
Martin Fey: Das Verfahren ist zweistufig. Zuerst wird nach den vorher genannten Kriterien entschieden, ob ein Bereich der HSM zugeordnet wird. Dann legt das Fachorgan die Selektionskriterien fest, mit denen der Bereich ausgeschrieben wird. Ein Spital muss genügend Fallzahlen vorweisen können; es muss über die geeignete Infrastruktur verfügen und Anforderungen als Weiterbildungsstätte und in klinischer Forschung erfüllen.
Und Sie legen fest, wie viele Zentren es braucht?
Martin Fey: Ja. Wir sind gesetzlich dazu verpflichtet, keine Unterkapazitäten vorzusehen, aber auch keine Überkapazität. Wir arbeiten mit dem Schweizerischen Gesundheitsobservatorium zusammen. Es erstellt demografische Analysen und simuliert, wie häufig welche Eingriffe in den nächsten Jahren sein dürften.
Barbara Tettenborn: Bei einem Wahleingriff wie einer tiefen Rektumresektion ist es zumutbar, dass eine Patientin oder ein Patient geplant aus dem Puschlav nach Zürich reisen muss. Aber bei Notfallindikationen muss die Leistungszuteilung so geschehen, dass man innert nützlicher Frist ein Zentrum erreicht. Es braucht in jeder Region ein Schlaganfall- oder Traumazentrum.

Prof. Dr. med. Barbara Tettenborn

Neue Präsidentin HSM-Fachorgan

Tatsächlich geht es bei der HSM-Zuteilung stets um eine Verbesserung der Patientenversorgung.

In welchen HSM-Bereichen haben Sie, Herr Fey, als Präsident Akzente gesetzt?
Martin Fey: Wir haben Themen wie Pädiatrie, Neurochirurgie und teilweise auch die Viszeralchirurgie aus der Schublade geholt. Wir haben neue Themen aufgegriffen wie die gynäkologische Onkologie und Urologie. Daneben gibt es die Dauerläufer, die von Anfang an dabei waren: Schwere Verbrennungen, Transplantationen oder die zwölf Traumazentren. Vor allem haben wir daraufhin gearbeitet, dass zwischen den jeweils sechs Jahre laufenden Zuteilungsphasen keine Lücken mehr entstehen.
Sie leiten das HSM-Fachorgan. Entschieden wird aber im Beschlussorgan, das aus Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren besteht. Wie stark politisch geprägt sind die Beschlüsse?
Martin Fey: Erfreulich wenig. Ich muss dem Beschlussorgan ein Kränzchen winden. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle entscheidet das Beschlussorgan sehr faktenorientiert. Nicht zufrieden war ich bei den schweren Rückenmarkstumoren. Das sind vielleicht 20 Fälle pro Jahr. Wir hatten zwei Zentren vorgeschlagen, beide in der Deutschschweiz. Das Beschlussorgan fand, man müsse auf die Westschweiz Rücksicht nehmen. Dann kam auch die Zentralschweiz – und so weiter. Jetzt haben wir fünf Zentren. Das finde ich nicht glaubwürdig.
Nach zehn Jahren beim HSM ist Schluss: Martin Fey tritt zurück, Barbara Tettenborn übernimmt.
Gerade kleinere Spitäler fürchten wegen der HSM um ihre Perspektiven.
Martin Fey: Es ist noch keine Klinik bankrottgegangen wegen fehlender HSM-Fälle. Wir regulieren bloss ein bis zwei Prozent der Interventionstypen, die in einer Fachklinik, beispielsweise in einer Viszeralchirurgie oder in einer Klinik für Gynäkologie, durchgeführt werden. Aber klar: Die grossen Spitäler kriegen immer mehr HSM-Fälle. Konsequenterweise sollten sie dafür Blinddärme, Gallenblasen und solche Sachen abgeben. Man muss wegen einer Leistenhernie nicht ins Inselspital.
Wer keinen Leistungsauftrag erhält, darf einen Eingriff nicht mehr vornehmen. Ohne Fallzahlen aber gibt es kaum Chancen auf einen neuen Leistungsauftrag. Ist das gerecht?
Martin Fey: Meine Ansicht als abtretender Präsident ist strikt. Nach Gesetz müssen wir eine bedarfsgerechte Planung der Spitalkapazitäten vornehmen. Wenn es keine Engpässe oder übertriebene Wartezeiten gibt, besteht bei bedarfsgerechter Planung der HSM-Zuteilungen kein Bedarf für zusätzliche Spitäler.
Aber der Pool an möglichen Spitälern bleibt eingeschränkt.
Martin Fey: Das stimmt. Für ganz schwere Verbrennungen gibt es zwei Zentren, Zürich und Lausanne. Wenn eines aussteigt, haben wir ein Problem.

Prof. em. Dr. med. Martin Fey

Abtretender Präsident HSM-Fachorgan

Man hört oft, die Schweiz habe ein sehr gutes Gesundheitswesen. Diese Aussage beruht mehrheitlich auf reiner Selbstdeklaration.

Barbara Tettenborn: Das Fachorgan will nun Spielregeln aufstellen für solche Themen. Wir haben, auch um die politische Landschaft etwas zu beruhigen, eine Arbeitsgruppe gegründet, die an Re-Entry-Kriterien arbeiten wird. Also wie sich ein Spital wieder bewerben kann, das die Zuteilung verloren hat. Auch Neubewerbungen müssen möglich sein.
Welche Neuerungen stehen noch an?
Barbara Tettenborn: Geplant ist, die Gefässchirurgie neu der HSM zuzuordnen. Daneben sind wir mit Zuteilungen und Wiederzuteilungen ausgelastet. Und wir beginnen mit Controlling. Wir wollen wissen, ob sich die Spitäler an die Auflagen halten oder ob sie unbeirrt weitermachen wie vorher, obwohl sie keine Zuteilung erhalten haben.
Solche Fälle gibt es?
Martin Fey: Oh ja, leider.
Und was tun Sie?
Martin Fey: Wir fordern das Spital zu einer Stellungnahme auf – und melden es der jeweiligen Gesundheitsdirektion. Diese verweigert die Auszahlung des Kantonsanteils, das Spital kriegt 50 Prozent der Rechnung nicht bezahlt.
Wie prüfen Sie die Behandlungsqualität an zugelassenen HSM-Kliniken?
Martin Fey: Wir verlangen das Führen eines HSM-Registers und legen minimale Qualitätsrichtlinien fest.
Barbara Tettenborn: In den Schlaganfall-Zentren wird zum Beispiel die sogenannte Door-to-Needle-Time erhoben. Wie viele Minuten dauert es vom Eintritt in die Notaufnahme bis zur Bildgebung und zum Beginn der Therapie?

Prof. Dr. med. Barbara Tettenborn

Neue Präsidentin HSM-Fachorgan

Ich stehe voll und ganz hinter dem, was ich tue, und bin überzeugt, dass das HSM-Konzept wichtig ist für das Gesundheitssystem.

Was sehen Sie dabei?
Martin Fey: Die Unterschiede zwischen den Spitälern sind erheblich. Manche haben eine doppelt so lange Door-to-Needle-Time, wie man sie erwarten dürfte. Dort verlangen wir Verbesserungen. Dieser Mechanismus spielt ausserhalb der HSM praktisch nicht. Man hört oft, die Schweiz habe ein sehr gutes Gesundheitswesen. Aber diese Aussage beruht mehrheitlich auf reiner Selbstdeklaration. Es gibt in der Schweiz keine flächendeckenden, prospektiven und validierten Register, die klinische Qualität pro Spital und Eingriff über die Jahre belegen. Wenn man die Daten in den HSM-Registern anschaut, bekommt man ein differenziertes Bild von dieser Selbstdeklaration: Manche sagen, sie seien sehr gut – und sind es auch. Andere nicht.
Zeigen die Register, dass sich die HSM bewährt?
Martin Fey: Ich bin felsenfest überzeugt, dass eine Zentralisierung bestimmter medizinischer Leistungen nötig ist in der Schweiz. Aber die meisten unserer HSM-Register sind noch zu jung und zu wenig validiert, um eine Qualitätssteigerung nachzuweisen. Sagen können wir es bei der Organtransplantation, die hervorragende Zahlen aufweist.
Barbara Tettenborn: Dank der Register kann das Fachorgan die Qualität prüfen und hochhalten. In Ländern wie Norwegen, Dänemark oder Niederlande ist die Zentralisierung viel stärker und hat sich bewährt.
Wie wird sich die HSM längerfristig entwickeln?
Barbara Tettenborn: Das ist schwierig vorherzusagen. Vielleicht verschieben sich Bedarfszahlen. Vielleicht entstehen zusätzliche Bereiche durch neue, Roboter- oder KI-gestützte Operationen. Vielleicht verschwinden Bereiche, weil manche Eingriffe in Zukunft nicht mehr stationär durchgeführt werden. Die HSM regelt ausschliesslich den stationären Bereich.
Martin Fey: Wir hatten bei der Urologie erwogen, die Teilnephrektomie der HSM zu unterstellen. Eine solche Teilentfernung eines Nierentumors ist technisch viel schwieriger als die Entfernung der gesamten Niere. Aber die Patientin oder der Patient behält eine bessere Nierenfunktion. Namhafte Urologen sagten mir: Macht das bitte nicht, das führt dazu, dass kleinere Spitäler einfach die ganze Niere wegnehmen, anstatt die Patienten einem HSM-Zentrum zuzuweisen.
Was für den Patient oder die Patientin die schlechtere Variante wäre.
Martin Fey: Genau.
Es gibt politische Bestrebungen, die HSM einzuschränken. Was würde das bedeuten?
Martin Fey: In vielen Gebieten herrscht Wildwuchs. Wenn wir Interventionen aus der HSM streichen müssten, dann würden diese Eingriffe wieder überall gemacht. Das wäre ein Rückschritt.
Martin Fey, Sie sind für Ihre Arbeit zum Teil auch persönlich angegriffen und angefeindet worden. Braucht man eine dicke Haut für die Arbeit im HSM-Fachorgan?
Martin Fey: Durchaus. Die Arbeit mit Politikern und mit dem Beschlussorgan war immer sehr angenehm. Aber manche Angriffe von Chirurgen fand ich daneben. Sie haben mich zum Teil schon etwas beschäftigt.
Machen Sie sich diesbezüglich Sorgen, Frau Tettenborn?
Barbara Tettenborn: Nein, auch wenn es Anfeindungen geben wird. Ich stehe voll und ganz hinter dem, was ich tue, und bin überzeugt, dass das HSM-Konzept wichtig ist für das Gesundheitssystem. Und wenn ich mich über etwas richtig ärgere, gehe ich eine Stunde schwimmen oder laufen. Danach sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.

Hochspezialisierte Medizin in der Schweiz

Im Jahr 2008 haben die Kantone die Interessenvereinbarung zur hochspezialisierten Medizin unterzeichnet. Sie verpflichten sich, zur Qualitätsverbesserung komplexe Eingriffe bei seltenen Erkrankungen nur wenigen Kompetenzzentren zuzuteilen. Welche Bereiche der hochspezialisierten Medizin (HSM) zugeordnet werden und welche Spitäler zum Zug kommen, entscheidet das HSM-Beschlussorgan, dem die Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren von zehn Kantonen angehören. Unterstützt wird es vom HSM-Fachorgan, einem 15-köpfigen Expertengremium aus Ärztinnen und Ärzten verschiedener Fachbereiche. Das Fachorgan erarbeitet Vorschläge, legt die Voraussetzungen für die Leistungserbringung fest und macht Empfehlungen für die Zuteilung. Momentan sind 14 Bereiche der HSM zugeordnet, von Organtransplantationen und Cochlea-Implantaten über schwere Verbrennungen bis zur hochspezialisierten Pädiatrie und Kinderchirurgie.