Gefragte Gesundheitshüter

Gefragte Gesundheitshüter

Coverstory
Ausgabe
2024/1314
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2024.1394465407
Schweiz Ärzteztg. 2024;105(13-14):12-15

Publiziert am 27.03.2024

Public Health
Etliche Kantone hatten es in den vergangenen Jahren schwer, Kantonsärztinnen und -ärzte zu finden und zu halten. Corona war ein wichtiger Grund dafür, aber nicht nur. Über einen zentralen Beruf unseres Gesundheitssystems.
Der Kanton Jura hat seit Sommer 2022 nach mehrjähriger Suche wieder einen Kantonsarzt, der Kanton Schaffhausen seit letztem Herbst nach zwei Wechseln innert drei Jahren. Im Baselland hat letztes Jahr der vierte Kantonsarzt seit 2014 sein Amt angetreten und im Aargau wird der kantonsärztliche Dienst seit gut eineinhalb Jahren interimistisch geleitet. Während der Pandemie waren die Kantonsärztinnen und -ärzte stark gefordert: Auf einen Schlag und für lange Monate waren ihre Vermittlung und Koordination zwischen Bund, Kanton und Ärzteschaft unverzichtbar bei der Erarbeitung und Umsetzung der Massnahmen, ihre Auskünfte in den Medien permanent gefragt. Es sei eine kräftezehrende Zeit gewesen, bestätigt der Freiburger Kantonsarzt Thomas Plattner. «Dies hat sicher Einfluss auf gewisse Wechsel gehabt.»
Doch für ihn spielt bei diesem Thema auch das Alter der Stelleninhabenden eine Rolle: «Das Durchschnittsalter der Kantonsärztinnen und Kantonsärzte und auch ihrer Stellvertretenden ist heute tiefer als noch in den Nullerjahren.» Sie ständen also in der ersten Hälfte ihrer Karriere und zögen allenfalls nach ein paar Jahren eine Stelle weiter. Oder sie rücken aus der Stellvertretungsfunktion nach, wenn eine Kantonsarzt-Position frei wird. So geschehen in den letzten Jahren etwa in den Kantonen Thurgau, Schwyz, Tessin und Zürich.

Einige Kantone haben in den letzten Jahren die Pensen der Kantonsärztinnen und -ärzte erhöht.

«Jeder Kanton ist anders»

Ein weiterer wichtiger Faktor für die Attraktivität kantonsärztlicher Aufgaben ortet Barbara Grützmacher, Präsidentin der Vereinigung der Kantonsärztinnen und Kantonsärzte der Schweiz (VKS), in der Verschiedenartigkeit, in der die Kantone diese Behörde organisieren. Zuständigkeiten und Ressourcen variieren teilweise stark. Beispielsweise ist in Bern, wo Grützmacher als Kantonsärztin amtet, die Aufsicht und Bewilligung der Ärzteschaft einer anderen Abteilung des Gesundheitsamtes angegliedert. «In anderen Kantonen, etwa der Waadt, übernimmt der Kantonsarzt diese Tätigkeit.» Ebenso unterschiedlich sieht es punkto Pensen aus: Zwar arbeitet ein Grossteil der Kantonsärztinnen und -ärzte vollamtlich, doch einige von ihnen gehen zusätzlich noch einer anderen klinischen Tätigkeit nach. Dies insbesondere in kleineren Kantonen. In den letzten Jahren wurden die Stellenprozente in einigen Kantonen erhöht, darunter Schaffhausen, Glarus und Graubünden. Teils vor, teils auch während Corona. Es gibt auch den Fall, dass ein Kantonsarzt für zwei Kantone zuständig ist, wie in Obwalden und Uri. Eine Entwicklung, die sich noch ausbreiten könnte, sagt der Nidwaldner Kantonsarzt Peter Gürber. «Eine kantonsärztliche Region Innerschweiz ist angesichts des Ärztemangels denkbar.»

Dr. med. Peter Gürber

Nidwaldner Kantonsarzt

«Eine kantonsärztliche Region Innerschweiz ist angesichts des Ärztemangels denkbar.»

Was allen kantonsärztlichen Stellen gleichermassen obliegt, ist ihr im Epidemiegesetz festgehaltener Auftrag als Überwacherinnen der übertragbaren Krankheiten. Dazu gehört deren Meldung ans Bundesamt für Gesundheit wie auch das Contact Tracing. Zu den hoheitlichen Aufgaben der Kantonsärzteschaft zählen ferner das Meldewesen bei legalen Schwangerschaftsabbrüchen und der Vollzug des Betäubungsmittelgesetzes. Je nach Kanton sind Kantonsärztinnen und -ärzte zudem für Public-Health-Themen wie Schulgesundheit, Impfprogramme, Suchtberatung und -therapie zuständig und nehmen amtsärztliche Aufgaben wie Legalinspektionen bei aussergewöhnlichen Todesfällen oder die Anordnung fürsorgerischer Freiheitsentziehung wahr.

Administration und Vielfalt

Ob dieser doch beachtliche Teil Verwaltungsarbeit die Suche nach Kantonsärztinnen und -ärzten mitunter erschwert? «Administration ist immer ein Mittel zum Zweck», führt Thomas Plattner aus und verweist auf interessante administrative Aufgaben wie die Überwachung von Gesundheitsberufen oder die Betreuung von suchtkranken Personen. «Sie sind mit grosser Verantwortung verbunden.» Zudem versuche man, Administration möglichst als Dienstleistung zu realisieren, die Bürgerinnen und Bürger tatsächlich etwas bringe. Peter Gürber sieht das Thema pragmatisch: «Irgendjemand muss fachlich beurteilen, ob die gesetzlichen Vorgaben in medizinischen Fragen eingehalten sind.» Er schätzt seine kantonsärztliche Tätigkeit von rund einem Tag pro Woche als Ergänzung zur Arbeit als Hausarzt.
Routineaufgaben wie das Meldewesen gehören auch für Barbara Grützmacher dazu, doch «unsere Arbeit ist enorm vielfältig». Da seien die Anfragen von Ärztinnen und Ärzten, die Zusammenarbeit mit unterschiedlichsten Ämtern, der kantonalen Ärztegesellschaft und den Gesundheitsinstitutionen, der rege Austausch mit den Amtskolleginnen und -kollegen aus der ganzen Schweiz. So fühlt sie sich in ihrer Position viel eher als Initiantin und Begleiterin zukunftsfähiger Gesundheitsinitiativen denn als reine Gesetzesvollzieherin: «Wir haben einige Möglichkeiten, Dinge zu verändern.» Zum Beispiel mit einem kürzlich abgeschlossenen Pilotprojekt zur Unterstützung des Wochenend-Notfalldienstes im Berner Oberland, das sie auf andere Regionen auszuweiten hofft [1].

Dr. med. Barbara Grützmacher

Kantonsärztin Bern und Präsidentin der Vereinigung der Kantonsärztinnen und Kantonsärzte der Schweiz

«Unsere Arbeit ist vielfältig und wir haben einige Möglichkeiten, Dinge zu verändern.»

Mehr Medizin oder Politik?

«Auf Kantonsebene kann ich Strategien mitentwickeln und Projekte umsetzen, die sich direkt auf die Gesundheit der Bevölkerung auswirken», benennt Thomas Plattner das Interessante an seiner Aufgabe. Gleichzeitig müsse man ihre politische Seite mögen. Sie bedinge Verständnis für die politischen Prozesse und eine gewisse Frustrationstoleranz, etwa wenn ein Projekt nach langer Vorbereitung doch nicht durchgeführt werden könne. «Mit dieser demokratischen Realität muss man leben können.» Barbara Grützmacher versteht sich als Türöffnerin. «Ich will unsere Projekte weiterbringen, indem ich die richtigen Leute mit meinem Fachwissen davon überzeuge.» Dafür eigne man sich das nötige diplomatische Geschick nach und nach an.
Jean Martin, Waadtländer Kantonsarzt von 1986 bis 2003, weist auf einen weiteren Aspekt der kantonsärztlichen Tätigkeit hin: Sie entferne die Kantonsärztinnen und -ärzte vom täglichen Kontakt mit dem Patienten. Im Gegenzug bringe sie diese «in noch engeren Kontakt mit dem Gesundheitssystem und seinen Partnern» [2]. Für die vollamtlich tätige Kantonsärzteschaft trifft diese Feststellung sicher zu. Doch für Thomas Plattner hat auch diese Arbeitssituation eine wertvolle Qualität, denn er schätzt die breite Vernetzung und Zusammenarbeit mit zahlreichen Partnern aus dem Privatbereich, der nicht staatlichen Organisationen, der Administration und der Politik. Ausserdem: «Man könnte sagen, dass der Patient eines Kantonsarztes quasi die Bevölkerung ist.»
Ferner gilt es für die meisten Kantonsärztinnen und -ärzte ein Team zu führen, oder, wie es Barbara Grützmann ausdrückt: «Die Bedingungen schaffen, damit die Mitarbeitenden möglichst gut arbeiten können.» Zudem seien für ihre Aufgabe neben den Fachkompetenzen in Medizin und Public Health auch eine breite Erfahrung in verschiedenen Bereichen des Gesundheitssystems wesentlich. Ob durch die Arbeit in der Praxis oder im Spital, in der Forschung oder bei einer Behörde: «Man erhält Einblick in das Funktionieren jeder Institution und kennt überall Leute, was je nach Problem oder Frage sehr hilfreich ist.»

Corona-Schub für Netzwerk und Digitalisierung

Dieses rasant vergrösserte Netzwerk ist denn auch eines der Dinge, welches die Berner Kantonsärztin als positive Erfahrung aus den Pandemie-Jahren mitnimmt. Ebenso das hohe Tempo, mit dem in der Krise Massnahmen entwickelt und umgesetzt werden konnten. «Einige Wege sind dank der vielen neuen Kontakte bis heute kürzer», bestätigt Thomas Plattner. Doch die Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen liesse sich immer noch verbessern, genau wie die Pandemiepläne: «Sie müssen pragmatischer und lösungsorientierter sein und die Führungsstrukturen und Verantwortlichkeiten besser klären.» Zudem gehört für ihn die Wissenschaft stärker in die Entscheidungsfindung einbezogen.

Dr. med. Thomas Plattner

Freiburger Kantonsarzt

«Bei einer nächsten Pandemie müssen die Verantwortlichkeiten klarer sein und die Wissenschaft ist stärker einzubinden.»

Beim Thema Digitalisierung sind sich alle Befragten einig: Richtig konzipiert, kann sie die Gesundheitsversorgung enorm unterstützen. Entsprechend zufrieden zeigt sich Barbara Grützmacher mit der Digitalisierung des Meldewesens, an welcher auch das Bundesamt für Gesundheit aktuell arbeitet [3]. Um eine nächste Pandemie besser stemmen zu können, vermisst sie aber noch einige digitale Tools. Beispielsweise für das nationale Contact Tracing. Deshalb entwickle der Kanton Bern zurzeit ein Contact-Tracing-Tool, welches auch von anderen Kantonen übernommen werden könnte. Doch ob mit oder ohne Pandemie, «die Medizin wird je länger, desto komplexer», sagt der Nidwaldner Kantonsarzt Peter Gürber. Heute überlebten die Menschen Krebs, hätten viele verschiedene Medikamente und Spezialisten, die Krankengeschichten seien schier nicht mehr zu überblicken. Sein Fazit: «Ohne elektronische Unterstützung kann man heute eigentlich nicht mehr arbeiten.» So kann er schlecht nachvollziehen, weshalb sich hierzulande bisher noch kein praxistaugliches elektronisches Patientendossier etablieren konnte.

Ein Job mit Potenzial

Die Digitalisierung ist nicht das einzige nationale Public-Health-Thema, das auch die Kantonsärztinnen und -ärzte beschäftigt. Im Kanton Bern wolle man dem Ärztemangel entgegenwirken, indem man entsprechende Projekte initiiere oder unterstütze, berichtet Barbara Grützmann: Beim erwähnten Wochenend-Notfalldienst [1], in der Telemedizin oder bei neuen Praxismodellen wie das Medicentre des Spitals Berner Jura (heute Teil des Réseau de l’Arc, in dem Ärztinnen und Ärzte angestellt sind). «Dieses Projekt sollte Schule machen.» Ebenso möchte die Berner Kantonsärztin die interprofessionelle Zusammenarbeit mit dem Einsatz von Advanced Practice Nurses (APN) fördern. Dass sie ein Gewinn für die Gesundheitsversorgung seien, zeige deren erfolgreiche Arbeit im Ausland wie auch in Schweizer Pilotprojekten, unter anderem in der Hausarztmedizin im Kanton Bern. Leider seien die APN als Leitungserbringer noch nicht im Gesetz verankert und entsprechend auch ihre Aufgaben und deren Vergütung noch nicht abgebildet. «Da muss der Bund vorwärtsmachen», sagt Barbara Grützmann energisch. Das Argument, neue Leistungserbringende brächten eine Mengenausweitung, lässt sie angesichts der Überlastung der Ärzteschaft nicht gelten. Der Einblick in die vielseitigen Aufgaben der Kantonsärzteschaft zeigt: Wer die öffentliche Gesundheit auf kantonaler Ebene mitgestalten möchte, findet in dieser Position reichlich Gelegenheit dazu.
1 Hausärztlicher Notfalldienst geht neue Wege, Medienmitteilung der Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion des Kantons Bern vom 14. März 2023. Online: https://www.gsi.be.ch/de/start/news/medienmitteilungen.html?newsID=1cc41431-9b81-4a71-9261-681510df64d9 (Stand 11.03.2024)
2 Martin J. Médecin cantonal — Pourquoi, comment, pour quoi ? Bull Med Suisses 67, 1724-1728, 1986.
3 Informationssystem für meldepflichtige Krankheiten wird effizienter, Medienmitteilung des Bundesamts für Gesundheit vom 29.11.2023. Online: https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/das-bag/aktuell/medienmitteilungen.msg-id-99065.html (Stand 11.03.2024)