Ida Schneider: eine Nichtärztin als Spiritus rector der «Pflegi»

Porträt
Ausgabe
2024/1314
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2024.1394960135
Schweiz Ärzteztg. 2024;105(13-14):62-63

Publiziert am 27.03.2024

Pflegeausbildung
Solide. Fundiert. Praktisch. So sollte die Ausbildung an der Zürcher Pflegerinnenschule sein. Dafür wollte die Krankenpflegerin Ida Schneider sorgen. Gemeinsam mit den Ärztinnen Anna Heer und Marie Heim-Vögtlin rief sie die Institution 1901 ins Leben und stand ihr bis 1914 als Oberin vor.
Die «Pflegerinnenschule mit Frauenspital» in Zürich war etwas absolut Einzigartiges: von Frauen gegründet, von Frauen geleitet, mit dem Zweck der Ausbildung von Frauen und der Behandlung von Frauen. Für die Krankenpflegerin Ida Schneider erfüllte sich mit der Eröffnung im Jahr 1901 ihr grösster Traum. Sie fand in der «Pflegi» eine Aufgabe, die ihrem Leben zentralen Sinn verlieh. Als «Oberin» leitete sie die Ausbildung der Krankenschwestern. Zugleich verantwortete sie die pflegerische Versorgung aller Patientinnen. Auch die Betriebsführung, von der Wäscherei bis zum Sekretariat, war ihr unterstellt. Überall sei sie gegenwärtig und ihre Kraft scheine unerschöpflich, schilderte eine Schülerin [1].
Ida Schneider in ihrem Büro, Weihnachten 1909.
© Gosteli-Archiv AGoF 110-FS-438

Ein Zweierteam mit einer Vision

Die Idee für eine solide Pflegerinnenausbildung ging von Ida Schneider und der Ärztin Anna Heer aus. Die beiden Frauen hatten sich 1892 im Krankenhaus zum Roten Kreuz in Zürich kennengelernt, wo Ida Schneider ihre Ausbildung absolvierte. Sie schrieb rückblickend: «Damals fesselte mich ihr ganzes Wesen, ihr Sein, ihr Tun, vorerst einmal als Ärztin.» [2] Die beiden Frauen fühlten grosse Sympathie füreinander und teilten ihre Begeisterung für eine gute medizinische Behandlung und Pflege. Daraus entstand eine Freundschaft, die zur Lebensgemeinschaft wurde.
Auf dem ersten Frauenkongress der Schweiz 1896 in Genf stellte Anna Heer das Projekt vor und fand wohlwollende Annahme. Das Vorhaben bedingte intensive organisatorische und fachliche Debatten, die Suche nach finanziellen Mitteln und politischer Unterstützung – die sich dank des guten Beziehungsnetzes von Ida Schneiders Vater fand. Albert Schneider wirkte als Rektor, Richter und Kantonsrat in Zürich. Als Jurist an der Universität Zürich hatte er die erste Schweizer Jurastudentin Emilie Kempin-Spyri unterstützt [2].

Auf dem ersten Frauenkongress der Schweiz 1896 in Genf fand das Projekt wohlwollende Annahme.

Die pflichtbewusste Managerin

Ab Herbst 1896 trafen sich Anna Heer und Ida Schneider regelmässig, um das Projekt voranzutreiben. Auch die erste Schweizer Ärztin Marie Heim-Vögtlin zählte zum Gründungskomitee. Die drei Frauen nahmen unterschiedliche Rollen ein. Während Marie Heim-Vögtlin vor allem ihren weitherum bekannten Namen einsetzte, vertrat Anna Heer die Anliegen gegen aussen. Sie war das Gesicht der Pflegi, weckte Vertrauen mit ihrer fachlichen Kompetenz und konnte das Publikum begeistern. Ida Schneider aber war die Managerin und organisierte jedes Detail für den komplexen Betrieb. Das war keine Selbstverständlichkeit: In die Gründung medizinischer Institutionen waren früher selten Frauen, und noch seltener Personen ohne akademischen Abschluss involviert.
Gewissenhaft bereitete sich Ida Schneider auf ihre neuen Aufgaben vor [1]: Sie arbeitete im Operationssaal der Zürcher Frauenklinik, im Diakonissenseminar in Stettin, in der Verwaltung des Berliner Krankenhauses Moabit und schliesslich als Volontärin im Allgemeinen Krankenhaus Eppendorf, einer Hamburger Vorzeigeklinik. Zurück in Zürich lernte sie Buchhaltung und erweiterte ihr pharmazeutisches Wissen im Krankenasyl Neumünster [2].

Ida Schneider nahm die Position der «Oberin» ein und fühlte sich so glücklich, «als wohl ein Mensch auf Erden es sein kann».

Vom Traumberuf zur Kündigung

Schon zwei Monate vor der Eröffnung der Pflegi zog Ida Schneider in den Bau ein, um die Arbeiten vor Ort besser überprüfen zu können. Danach nahm sie als Vorgesetzte sämtlicher Schwestern und Oberschwestern die Position der «Oberin» ein und fühlte sich so glücklich, «als wohl ein Mensch auf Erden es sein kann», wie sie schrieb. Den Quellen zufolge war sie eine strenge Lehrerin [1, 3], besass aber auch einen unverwüstlichen Humor. Während die Ärztinnen externe Praxen führten, war Ida Schneider in der Pflegi stets präsent. Nur einmal verliess sie für längere Zeit ihren Posten, als sie sich 1912 mit Anna Heer auf eine fünfwöchige Schiffsreise nach Skandinavien begab.
Die Anhäufung unterschiedlicher Funktionen brachte jedoch nicht nur eine enorme Arbeitslast mit sich, sie bot auch Anlass zur Kritik. Offenbar stiessen sich mehrere Ärztinnen an der Machtposition von Ida Schneider, die keine Berufskollegin war. Sie kritisierten auch ihre Arbeitsweise und Mängel in der Schulorganisation. Schliesslich reagierte sie 1914 «zu ihrem grossen Schmerze», wie es das Sitzungsprotokoll wiedergibt, mit der Kündigung ihrer Funktion als Oberin. Stattdessen übernahm sie das Quästorat.

Nachdem ihre grösste Kritikerin die ärztliche Leitung übernommen hatte, legte sie 1923 sämtliche Ämter endgültig nieder.

Ein doppelter Abschied

Nach ihrer Zeit als Oberin besuchte Ida Schneider Vorlesungen an der Universität Zürich und plante eine Studienreise nach Berlin. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs änderte die Situation aber grundlegend. Die neue Oberin der Pflegi musste nach Deutschland zurückkehren und Ida Schneider übernahm nochmals interimistisch ihren alten Posten. Nun aber starb Anna Heer plötzlich infolge einer Infektion, die sie sich während des Operierens zugezogen hatte.
An der Beerdigung im Dezember 1918 wurde die langjährige Beziehung der beiden Frauen als engste seelische und geistige Gemeinschaft beschrieben. Ida Schneider schrieb vom «Hinschied meiner liebsten Freundin», den sie in der «vereinsamten Arbeitsstube» zu verarbeiten suche [2].
1923 legte Ida Schneider sämtliche Ämter endgültig nieder, nachdem ihre grösste Kritikerin Anna Baltischwyler die ärztliche Leitung übernommen hatte. Den Kontakt zu «ihren» Schwestern und dem Unternehmen Pflegi, «das allein für mich Lebenszweck bedeutet», hielt sie als dessen ursprünglicher «Spiritus rector» lebenslang aufrecht [2, 3].
Ida Schneider überlebte ihre Gefährtin Anna Heer um ein halbes Jahrhundert. 1968 verstarb sie 99-jährig in Zürich.

Frauen in der Medizin

Die Porträtserie stellt in lockerer Folge historische weibliche Persönlichkeiten aus dem medizinischen Umfeld der Schweiz vor. Jede dieser Frauen beschritt eigenwillig ihren Weg. Und nicht selten weisen ihre Geschichten erstaunliche Bezüge zur Gegenwart auf.
1 Studer-von Goumoëns E. 25 Jahre Schweizerische Pflegerinnenschule mit Frauenspital in Zürich 1901–1926. Zürich 1926.
2 Müller V. E. Anna Heer 1863–1918. Gründerin der Schweizerischen Pflegerinnenschule. Wettingen 2019.
3 Bühler C. Die Pflegi. Ein Spital für Frauen – von Frauen geschaffen und geprägt. Zürich 2007.