Wie eine offizielle Statistik in die Irre führt

Wie eine offizielle Statistik in die Irre führt

Aktuell
Ausgabe
2024/15
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2024.1407365280
Schweiz Ärzteztg. 2024;105(15):30-32

Affiliations
a Dr. phil., persönliche wissenschaftliche Mitarbeiterin der Präsidentin
b Dr. med., Präsidentin der FMH

Publiziert am 10.04.2024

Täuschung durch Statistik
Behördliche Informationen zeigen eine Grafik, die eine dramatische Entwicklung der Gesundheitskosten suggeriert. Dieselben Zahlen lassen sich aber auch völlig anders darstellen: Würde man die für die Bevölkerung relevanten Frankenbeträge zeigen, wäre die Dramatik verschwunden.
In der Gesundheitspolitik werden immer wieder erschreckende Prozentangaben verbreitet, die den Eindruck erwecken, das Gesundheitswesen sei bald nicht mehr finanzierbar. Hohe Prozentangaben werden nicht nur oft in Diskussionen genannt [1], sie werden auch regelmässig in sogenannten «indexierten» Grafiken dramatisch veranschaulicht. Diese Grafiken zeigen ausschliesslich prozentuale Entwicklungen – ohne die realen, dahinterliegenden Werte. Was als scheinbar seriöse statische und neutrale Information daherkommt, fördert jedoch eine einseitig verzerrte Wahrnehmung [2].

Täuschung mit Prozenten

Ein eindrückliches Beispiel einer solchen Darstellung findet sich in einem aktuellen Faktenblatt des Bundesamts für Gesundheit (BAG) [3], das über den indirekten Gegenvorschlag zur Kostenbremse-Initiative informieren soll. Die in Abbildung 1a nachgebildete BAG-Grafik vergleicht drei Entwicklungen miteinander: Eine rote Linie zeigt die Entwicklung der Kosten der Schweizer Grundversicherung («Kosten der obligatorischen Krankenversicherung pro Kopf und Jahr»). Eine blaue Linie zeigt die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts («Gesamtwirtschaft») und eine grüne Linie die Entwicklung der Löhne [4].
In dieser Grafik scheinen die Gesundheitskosten steil zu steigen, während die Entwicklung des BIP und der Löhne sehr flach ausfallen. Die Gesundheitskosten scheinen der Wirtschaft und der arbeitenden Bevölkerung über den Kopf zu wachsen. Diese Interpretation legt das Faktenblatt auch nahe, in dem es zur Grafik erläutert: «Zwischen 2012 und 2022 erhöhten sich die Kosten für Leistungen nach dem Krankenversicherungsgesetz (KVG) um 31%, das BIP nur um 10% und die Löhne um 6%» [3, Hervorhebung der Autorinnen].

Die offizielle Grafik täuscht, weil Anstiege von 33 Franken und Anstiege von 805 Franken gleich gross erscheinen.

Prozente sind nicht vergleichbar

Die Grafik täuscht den Betrachter jedoch, indem sie Prozente miteinander vergleicht – obwohl diese Prozente überhaupt nicht miteinander vergleichbar sind. Denn ein Prozent der OKP-Gesundheitskosten ist ein sehr viel niedrigerer Betrag als ein Prozent der Löhne oder ein Prozent des BIP. Die völlig unterschiedlichen Grössenverhältnisse kann der Betrachter in dieser offiziellen Grafik (Abbildung 1a) aber nicht sehen. Er kann nicht sehen, dass im Jahr 2012 die OKP-Bruttoleistungen pro Kopf 3257 Franken [5] betrugen, das BIP hingegen 80 487 Franken [6] und ein medianes Brutto-Vollzeiteinkommen 78 600 Franken [7]. Damit bleibt für den Betrachter auch unsichtbar, was dies für die abgebildeten Prozente bedeutet: Wenn die rote Linie um ein Prozent ansteigt, entspricht dies einem Zuwachs von 33 Franken. Wenn die blaue Linie um ein Prozent ansteigt, entspricht dies einem Zuwachs um 805 Franken. Und wenn die grüne Linie um ein Prozent ansteigt, entspricht dies einem Zuwachs von 786 Franken. Zuwächse von 33 Franken bis 805 Franken erscheinen in dieser offiziellen Grafik gleich gross!
Abbildung 1a: Prozentuale Darstellung der Bundesverwaltung.
Abbildung 1b: Darstellung derselben Zahlen in absoluten Frankenbeträgen.

Frankenbeträge zeigen anderes Bild

Bildet man exakt die gleichen Zahlen nicht in Prozenten, sondern in realen Frankenbeträgen ab, ergibt sich ein völlig anderes Bild, wie Abbildung 1b zeigt. Auch hier ist zu sehen wie die Kosten der Grundversicherung pro Kopf (rote Linie) zwischen 2012 und 2022 anstiegen, nämlich von 3257 Franken auf 4294 Franken [5]. Der vom BAG hervorgehobene hohe prozentuale Zuwachs von 31% [8] entspricht folglich einem Betrag von 1037 Franken. Gleichzeitig ist erkennbar wie das BIP pro Kopf (blaue Linie) auf deutlich höherem Niveau von 80 487 Franken auf 88 717 Franken stieg [6]. Der BIP-Anstieg von «nur» 10%, wie das BAG-Faktenblatt schreibt, entspricht folglich einem Betrag von 8230 Franken und ist damit real etwa achtmal so gross wie die Zunahme der KVG-Kosten. Ebenfalls auf deutlich höherem Niveau ist der mediane Brutto-Vollzeitlohn (grüne Linie) gewachsen: von 78 600 Franken auf 82 000 Franken [7]. Der prozentual vermeintlich nur kleine Lohnzuwachs entspricht real also einem Betrag von 3400 Franken.

Würden die realen Beträge in Franken gezeigt, würde deutlich: Der Lohnzuwachs ist grösser als der Kostenzuwachs.

Hätte das BAG denselben Sachverhalt in Frankenbeträgen dargestellt, hätte die Grafik folglich völlig anders ausgesehen. Auch die Erläuterung zur Grafik hätte anders lauten müssen: «Zwischen 2012 und 2022 erhöhten sich die Kosten für Leistungen nach dem Krankenversicherungsgesetz (KVG) um 1037 Franken, das BIP jedoch sogar um 8230 Franken und die Löhne um 3400 Franken.»

Gleiche Zahlen – konträre Botschaft

Ein Vergleich der zwei Grafiken zeigt, wie entscheidend es ist, ob dieselben Zahlen in Prozent oder in Frankenbeträgen dargestellt werden. Wo völlig unterschiedliche Grössenordnungen auf der gleichen Prozent-Skala abgebildet werden, erscheint der Zuwachs der Gesundheitskosten deutlich grösser als der von BIP und Löhnen..
Zeigt man die absoluten Frankenbeträge, transportiert die Grafik hingegen eine völlig andere Botschaft: Auf diese Weise wird sichtbar, dass ein KVG-Kostenanstieg von 1037 Franken einem medianen Lohnzuwachs von 3400 Franken und einem BIP-Zuwachs von 8230 Franken gegenübersteht. Die unterschiedlichen Grössenordnungen von Gesundheitskosten, Löhnen und BIP sind bei einer Abbildung in Franken sofort sichtbar – und die Dramatik geht mangels steiler Kurvenverläufe verloren.

Ist der Kostenanstieg grösser als der Lohnanstieg? Oder ist es umgekehrt?

Die zwei Darstellungsweisen münden damit in völlig unterschiedliche Botschaften: Eine prozentuale Darstellung suggeriert, dass der Kostenzuwachs den BIP- und Lohnzuwachs deutlich übersteigt – obwohl dies gemessen in absoluten Frankenbeträgen gar nicht der Fall ist. Eine absolute Darstellung in realen Frankenbeträgen zeigt hingegen, dass der Zuwachs der KVG-Gesundheitskosten auf deutlich niedrigerem Niveau stattfindet und geringer ausfällt als BIP- und Lohnzuwachs.

Einseitige Information der Behörden

Die Bundesverwaltung verwendet für die Information der Öffentlichkeit leider eine prozentuale Darstellung, obwohl deren Problematik bekannt ist und auch bereits mehrfach kritisiert wurde. So zeigte zum Beispiel die NZZ bereits im April 2022 das Problem indexierter Grafiken auf, indem sie absolute Werte gegenüberstellte [9]. Auch die FMH hat bereits mehrmals die Probleme dieser prozentualen Darstellungsweise und ihre politischen Hintergründe dargelegt [2]. Die Gründe, warum die von den Behörden verwendete prozentuale Darstellung irreführend und für eine Information der Öffentlichkeit ungeeignet ist, sind offensichtlich:
  • Die Öffentlichkeit wird getäuscht, wenn in derselben Grafik Prozente miteinander verglichen werden, die in einem Fall 33 Franken und im anderem Fall 805 Franken entsprechen. Dass die prozentuale Darstellung die Grössenverhältnisse völlig verzerrt, können nur Menschen mit statistisch geschultem Blick erkennen. Wo Entwicklungen verglichen werden, müssen aber auch vergleichbare Einheiten verwendet werden.
  • Die Schweizer Bevölkerung hat in ihrem Alltag Franken im Portemonnaie und keine Prozente. Sowohl die Löhne als auch die Kosten der obligatorischen Krankenversicherung werden in Franken bezahlt und nicht in Prozent. Für die Öffentlichkeit wäre folglich vor allem die echte und alltagsrelevante Entwicklung in Franken von Interesse – und nicht irreführende abstrakte Prozentwerte.
  • Die ausschliesslich prozentuale Darstellung verstösst klar gegen den Auftrag der Behörden, neutral zu informieren, weil sie einen einseitig verzerrten und dramatisierten Eindruck vermittelt. Diese Darstellungsweise ist auch eindeutig politisch gefärbt: Sie wird bereits seit Jahrzehnten vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB) verwendet, der gemeinsam mit der SP bereits 1986 in einem Abstimmungskampf damit zeigen wollte, dass die Prämien die Löhne seit 1966 auffrässen [2]. Auch heute wird diese Darstellungsweise vor allem genutzt, um politische Anliegen zu unterstreichen. Aktuell setzen sowohl die SP als auch die Mitte-Partei indexierte Grafiken ein, um für ihre Initiativen zu werben. Behördliche Informationen sollten sich aber keine politische Agenda zu eigen machen.

Offizielle Behördeninformationen müssen neutral sein und dürfen keiner politischen Agenda folgen.

Wenn zwei Darstellungsweisen desselben Sachverhalts ein völlig unterschiedliches Bild vermitteln, dürfen offizielle Informationen von Behörden nicht nur eine, zudem irreführende und politisch gefärbte Sichtweise transportieren. Es ist enttäuschend, dass das BAG trotz der bekannten Kritik weiterhin suggestive Darstellungen verwendet und nicht einmal in einer Information zu einer Volksabstimmung neutrale Abbildungen verwendet. Eine ausgewogene und korrekte Information durch die Behörden wäre in den kommenden Wochen und Monaten besonders wichtig. Die Bevölkerung wird am 9. Juni 2024 über die SP-Prämien-Entlastungs-Initiative und die Kostenbremse-Initiative der Mitte-Partei abstimmen. Beim Stimmentscheid könnte die Einschätzung, ob die Gesundheitskosten dank des Lohn- und BIP-Wachstums tragbar sind oder nicht, eine wichtige Rolle spielen. Darum sollte die Bevölkerung zumindest durch die Bundesverwaltung unverzerrte, objektive Informationen erhalten.
1 Wille N, Gilli Y. Wie beeinflusst die Prämienentwicklung die verfügbaren Einkommen? Schweiz Ärzteztg. 2022;103(35):1070-1072; URL: https://saez.ch/article/doi/saez.2022.21009
2 Wille N, Gilli Y. Was Krankenkassenprämien und Störche gemeinsam haben. Schweiz Ärzteztg. 2023;104(26):26-29. URL: https://saez.swisshealthweb.ch/de/article/doi/saez.2023.21966/
3 Bundesamt für Gesundheit, 8. März 2024. Faktenblatt zum indirekten Gegenvorschlag zur Kostenbremse-Initiative https://www.bag.admin.ch/dam/bag/de/dokumente/kuv-leistungen/Laufende%20Revisionsprojekte/kvg-aenderung-vorgabe-kostenzielen/faktenblatt-vorgabe-kostenzielen.pdf.download.pdf/Faktenblatt%20indireketer%20Gegenvorschlag%20zur%20Kostenbremse-Initiative_KVG-%C3%84nderung%20Vorgabe%20von%20Kosten-%20und%20Qualit%C3%A4tszielen.pdf
4 Während die Original BAG-Grafik einen Lohnindex der Nominallöhne heranzog, wurde zur Nachbildung der BAG-Grafik das mediane Brutto-Vollzeiteinkommen verwendet. Dies war notwendig, um die reale Entwicklung in Franken in Abbildung 1b gegenüberstellen zu können. An der BAG-Grafik ändert sich deshalb aber nichts: Die Entwicklungen des Nominallohnindex und der medianen Brutto-Vollzeiteinkommen verlaufen identisch.
5 Daten gemäss Bundesamt für Gesundheit, Statistik der obligatorischen Krankenversicherung 2022: Totalwert aus Tabelle 2.18 Bruttoleistungen in Franken je versicherte Person; URL: https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/zahlen-und-statistiken/statistiken-zur-krankenversicherung/statistik-der-obligatorischen-krankenversicherung.html
6 Daten gemäss Bundesamt für Statistik, Bruttoinlandprodukt pro Kopf zu laufenden Preisen, BFS-Nummer je-d-04.02.01.05 mit Datenstand 24.8.2023; URL: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/querschnittsthemen/wohlfahrtsmessung/gueter/oekonomische-gueter/reales-bip-pro-kopf.assetdetail.27065029.html
7 Daten gemäss Bundesamt für Statistik, BFS-Nummer je-d-03.04.04.01, Bruttoerwerbseinkommen pro Jahr der Vollzeiterwerbstätigen, Zentralwert (Median) in Franken, Total der ständigen Wohnbevölkerung aus Tabellen 3.4.3.1 der Jahre 2012 bis 2022 mit Datenstand 22.6.2023: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/arbeit-erwerb/loehne-erwerbseinkommen-arbeitskosten/erwerbseinkommen.assetdetail.25585883.html
8 Bei den hier recherchierten Zahlen sind es 31.8%.
9 Birgit Voigt in NZZ am Sonntag, Künstliche Fieberkurve: Wie das BAG seine Prämien-Grafiken verzerrt; 16.04.2022, URL: https://magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/hintergrund/bag-dramatisiert-grafiken-zur-kostenexplosion-bei-den-praemien-ld.1679845