Dringender Handlungsbedarf beim Mangel an Psychopharmaka

Dringender Handlungsbedarf beim Mangel an Psychopharmaka

Aktuell
Ausgabe
2024/15
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2024.1412882309
Schweiz Ärzteztg. 2024;105(15):

Affiliations
a Dr. med., Präsidentin Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP), Co-Präsidentin Foederatio Medicorum Psychiatricorum et Psychotherapeuticorum (FMPP)
b Prof. Dr. med., Co-Präsident Schweizerische Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (SGKJPP), Co-Präsident FMPP
c Prof. Dr. med. Vorstand SGPP
d Dr. med., Zentralvorstand FMH
e Kommunikationsbeauftragter FMPP

Publiziert am 10.04.2024

Medikamentenknappheit
Der Mangel an Psychopharmaka beeinträchtigt zunehmend die Behandlungssicherheit und -qualität in der psychiatrischen Versorgung. Es braucht eine enge Zusammenarbeit von Fachverbänden, staatlichen Behörden und der Pharmabranche, um diese kritische Situation zu bewältigen. Kurzfristig ist eine Anpassung bestimmter regulatorischer Anforderungen notwendig.
Lieferengpässe – oder deutlicher: Mangellagen – bei Medikamenten stellen ein wachsendes Problem dar. Die Schwierigkeiten werden durch eine Kombination aus Marktstrategien der Pharmaunternehmen, regulatorischen Herausforderungen und globalen Komplikationen bei den Versorgungsketten verschärft. Enea Martinelli, Chefapotheker der Spitäler FMI AG, hat jüngst in der Schweizerischen Ärztezeitung dargelegt, dass nur dank einer grundlegenden Revision des Heilmittelgesetzes im Jahr 2010 ein totaler Zusammenbruch der Versorgung zehn Jahre später während der Pandemie in der Schweiz ausblieb [1]. In Mangellagen kann eine Anpassung regulatorischer Anforderungen die schnelle Zulassung und den Import von alternativen Medikamenten erleichtern.
Die Problematik ist insbesondere im Bereich der ambulanten Versorgung akut. Leidtragende sind die Patientinnen und Patienten. In der Psychiatrie gibt es bei mehreren Benzodiazepinen Engpässe, die eine angemessene Substitution zunehmend erschweren. Auch verschiedene Antidepressiva und Stimulantien sowie Medikamente zur Drogensubstitution und Alkoholprävention sind von dieser Knappheit betroffen. Die Versorgungsengpässe gefährden die notwendige kontinuierliche und wirksame Behandlung der Patienten und können in einigen Fällen sogar zu Hospitalisationen führen. Dies betrifft häufig vulnerable Menschen, die sich in prekären wirtschaftlichen Verhältnissen befinden.

Kontinuierliche Einnahme essenziell

Psychopharmaka spielen eine zentrale Rolle bei der Behandlung psychischer Erkrankungen. Eine kontinuierliche Einnahme der Medikamente gemäss ärztlicher Verordnung ist dabei von entscheidender Bedeutung, denn eine inkonsistente oder unterbrochene Medikation erhöht bei vielen psychischen Erkrankungen das Risiko für Rückfälle erheblich. Diese gehen oft mit signifikanten gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Konsequenzen einher und beeinträchtigen die Lebensqualität der Betroffenen deutlich.

Eine Anpassung regulatorischer Anforderungen könnte in Mangellagen Zulassung und Import von Medikamenten erleichtern.

Soziale Ungleichheiten im Gesundheitssystem

In einem dokumentierten Fall sah sich der behandelnde Psychiater mit der Herausforderung konfrontiert, eine pharmakologische Alternative zu erwägen. Jedoch führte bei diesem Patienten der Versuch, auf andere Psychopharmaka umzusteigen, zu schweren unerwünschten Nebenwirkungen, welche letztlich das Risiko zu einer Suizidalität erhöhen.
Dieser Fall offenbart auch soziale Ungleichheiten: Während gut situierte und informierte Patientinnen und Patienten durch eine hartnäckige Suche alternative Bezugsquellen für das Medikament finden können, stehen vulnerable Patienten mit begrenzten finanziellen Mitteln vor schier unüberwindbaren Hindernissen.
Trotz der Bemühungen verschiedener Arbeitsgruppen und Taskforces, Lösungen zu erarbeiten, bleibt die Situation für die praktizierende Ärzteschaft kritisch. Besonders herausfordernd gestaltet sich die Lage jener Ärztinnen und Ärzte, die nicht selbst dispensieren. Die Suche nach einer Apotheke, die möglicherweise noch über einen Vorrat des benötigten Medikaments verfügt, erweist sich als sehr schwierig. Es ist eine Herausforderung, die mit grossem Mehraufwand verbunden ist und darüber hinaus auch nicht abgegolten wird. In solchen Fällen werden die Patientinnen und Patienten in Apotheken oft einfach abgewiesen, nicht selten ohne Rückmeldung an die behandelnden Ärztinnen und Ärzte. Die Möglichkeit, auf Magistralrezepturen auszuweichen, ist im Alltag keine praktikable Lösung, da auch hier die Schwierigkeit besteht, eine Apotheke zu finden, die bereit ist, ein Medikament speziell für einen einzelnen Patienten oder eine Patientin herzustellen.

Eine inkonsistente oder unterbrochene Medikation erhöht bei vielen psychischen Erkrankungen das Risiko für Rückfälle erheblich.

Rasch umsetzbare Massnahmen nötig!

Wenn Medikamente für die Behandlung ihrer Patientinnen und Patienten fehlen, sind die behandelnden Ärztinnen und Ärzte oft gezwungen, einen erheblichen zeitlichen Aufwand zu betreiben, um auch über die Landesgrenzen hinaus nach den benötigten Medikamenten zu suchen. Doch selbst wenn diese Medikamente den gleichen Wirkstoff enthalten wie die in der Schweiz zugelassenen Arzneimittel, wird die Rückvergütung von den Krankenkassen in der Regel abgelehnt. Dies führt zu einem zeitraubenden bürokratischen Prozess, der wiederholte Interventionen bei den Krankenkassen erfordert und dessen Ausgang ungewiss ist.
Diese Situation stellt nicht nur eine erhebliche Belastung für die behandelnden Ärzte und Ärztinnen dar, die diesen administrativen Aufwand neben ihrer klinischen Arbeit bewältigen müssen, sondern wirft auch Fragen nach der Effizienz und Patientenorientierung im Gesundheitswesen auf. Hier braucht es Vereinfachungen und eindeutige Weisungen an die Krankenkassen, um sicherzustellen, dass auch im Ausland bezogene Medikamente, die für die Patientenversorgung unerlässlich sind, ohne unnötige Verzögerungen und bürokratische Hürden erstattet werden.

Es braucht jetzt zwingend Massnahmen, die sich zeitnah umsetzen lassen.

Fachverbände einbeziehen

Für die aktuellen Versorgungsprobleme kommen die mittelfristigen Lösungen, wie sie derzeit angedacht sind, zu spät. Darum braucht es jetzt zwingend Massnahmen, die sich zeitnah umsetzen lassen. Und dafür braucht es auch den aktiven Einbezug der Fachverbände. Angesichts dieser dringenden Problematik haben wir folgende Anliegen an das Bundesamt für Gesundheit (BAG) sowie an das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL):
  • Regulatorische Flexibilität: In Krisenzeiten braucht es einen Abbau der bestehenden Überregulierungen auf nationaler und kantonaler Ebene, welche die Resilienz unserer Gesundheitsversorgung schwächen.
  • Zeitnahes Angehen der Ursachen, welche die internationale Problematik auf der nationalen und kantonalen Ebene weiter verschärfen.
  • Dazu gehört eine Anpassung regulatorischer Anforderungen in Notsituationen, um den Import und die Kostenübernahme von bereits von Swissmedic zugelassenen Medikamenten (identisch hinsichtlich Wirkstoff, Dosis, galenischer Form) aus dem Ausland zu erleichtern.
  • Eine umfassende Überprüfung der aktuellen Lieferengpässe von Psychopharmaka unter Einbezug der Fachgesellschaften und der relevanten Berufsverbände und eine transparente Kommunikation der Ursachen und der voraussichtlichen Dauer.
  • Die Förderung von Alternativen und Unterstützungsangeboten für Ärztinnen und Ärzte sowie für Patientinnen und Patienten, um den Zugang zu notwendigen Medikamenten zu erleichtern.
  • Aufgrund der langen und anfälligen Logistikwege, der geopolitischen Lage und aufgrund von Qualitätsaspekten sind tragfähige Lösungen auf europäischer Ebene mit aktiver Partizipation der Schweiz zu beiderseitigem Nutzen unumgänglich.
Es bestehen keine Zweifel, dass eine enge Zusammenarbeit zwischen dem BAG, dem BWL, der FMH, Pharmasuisse, der Pharmalogistik und der Industrie sowie den medizinischen Fachgesellschaften essenziell ist, um diese nun schon lang anhaltende und sich weiter verschärfende Krise zu bewältigen. Die Ärzteschaft steht bereit, ihren Teil dazu beizutragen.
kommunikation[at]psychiatrie.ch
1 Enea Martinelli. Das System ist am Ende. Schweiz Ärzteztg. 2023;104(25):14-17 https://saez.swisshealthweb.ch/de/article/doi/saez.2023.21874/