Zweite Top-5-Liste Anästhesiologie und Perioperative Medizin

Organisationen
Ausgabe
2024/15
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2024.1418531370
Schweiz Ärzteztg. 2024;105(15):40-42

Affiliations
a Prof. Dr. med., Co-Präsident Schweizerische Gesellschaft für Anästhesiologie und Perioperative Medizin (SSAPM)
b Prof. Dr. med., Präsident Stiftung für Patientensicherheit in der Anästhesie (SPSA)

Publiziert am 10.04.2024

Empfehlungen
smarter medicine publiziert in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Gesellschaft für Anästhesiologie und Perioperative Medizin (SSAPM) eine zweite Top-5-Liste. Darin sind fünf weitere unnötige Behandlungen aufgeführt, auf die verzichtet werden kann. Diese sollen einen wichtigen Beitrag zur Initiative «smarter medicine» leisten.
Gemäss Top-5-Liste ist eine postoperative Gabe von Antibiotika meist nicht erforderlich.
© Vector Up / Dreamstime
Im Jahr 2018 erhielten die Mitglieder der Swiss Society of Anaesthesiology and Perioperative Medicine (SSAPM) einen Brief mit einem Raster für anästhesiologische Empfehlungen zur Initiative «smarter medicine – Choosing Wisely Switzerland». Darin wurden sie gebeten, die für sie potenziell wichtigen Empfehlungen «bottom-up» aufzulisten. Insgesamt wurden 48 Vorschläge für Empfehlungen mit 136 Voten eingereicht, das grösste Votum für eine Empfehlung lag dabei bei 17.
Die Vorschläge wurden durch ein Expertengremium des SSAPM-Vorstandes gemäss der Votenverteilung aufgelistet, und gewisse Empfehlungen wurden zusammengefasst und gruppiert, sodass letztlich die wichtigsten zehn Empfehlungen zusammengestellt werden konnten. Danach wurde eine Umfrage bei allen Leitenden einer SIWF-anerkannten anästhesiologischen Weiterbildungsstätte (WBS) durchgeführt. Sie wurden gebeten, die zehn Empfehlungen mittels einer vierteiligen Likert-Skala zu bewerten. 33 der insgesamt 55 WBS-Leitenden nahmen an dieser Umfrage teil (Rücklaufquote: 60%). Die ersten fünf Empfehlungen mit den höchsten Mittelwerten (2,97–3,51) wurden in der ersten Top-5-Liste im Jahr 2018 publiziert. Die weiteren fünf Empfehlungen (Mittelwert: 2,17–2,89) unterliefen 2022 im Expertengremium der SSAPM einen weiteren Reviewprozess, bei dem festgestellt wurde, dass eine Publikation dieser Empfehlungen in einer aktualisierten Form als weitere Top-5-Liste 2023 sinnvoll ist. Die erweiterte Liste wurde vom Vorstand der SSAPM am 10. Juli 2023 verabschiedet.
Die fünf Fachempfehlungen der zweiten Liste auf einen Blick:

1. Keine perioperative Antibiotikaprophylaxe ausserhalb der Guidelines. Die Prophylaxe als Einmaldosis sollte zeitgerecht erfolgen (0–60 Minuten vor Hautschnitt), und falls in Ausnahmefällen eine postoperative Gabe notwendig ist, soll diese auf 24 Stunden begrenzt werden [1, 2].

Chirurgische Wundinfekte sind mit einer Inzidenz von 2–5% aller durchgeführten Operationen eine relativ häufige postoperative Komplikation mit beträchtlicher Morbidität und Mortalität. Verschiedene Studien in den vergangenen Jahren konnten belegen, dass eine adäquate, perioperativ durchgeführte Antibiotikaprophylaxe die Wundinfektrate senken kann. Dafür muss das Antibiotikum effektiv sein gegen Erreger, die die Wunde am wahrscheinlichsten kontaminieren, und zum richtigen Zeitpunkt in der richtigen Dosis verabreicht werden, damit zum Zeitpunkt der möglichen Kontamination ein wirksamer Serumspiegel und eine wirksame Gewebekonzentration bestehen kann. Grundsätzlich gilt dies – gemäss den aktuellen Guidelines zur Verhinderung von SSI (Surgical Site Infection) – für ein Zeitfenster von 60 Minuten vor Hautschnitt oder, bei Operationen mit Tourniquet, 60 Minuten vor Tourniquet-Anlage. Eine Einmaldosis genügt meistens. Eine zweite Dosis soll dann appliziert werden, wenn die Operationszeit 2-mal die Halbwertszeit des Antibiotikums überschreitet oder ein Blutverlust von >1500 ml vorliegt. Eine postoperative Gabe ist meist nicht erforderlich – wenn sie jedoch erfolgt, soll sie auf 24 Stunden begrenzt werden.

2. Keine Kathetereinlage (arterielle und zentrale Gefässkatheter, Schmerzkatheter, Urinkatheter) ohne vorgängige kritische Indikationsprüfung. Bei Entscheid zur Einlage ist auf ein steriles Vorgehen, wenn möglich auf die Nutzung von Bildgebung (Ultraschall) und auf eine möglichst kurze Liegedauer zu achten [3–5].

Eine perioperative Kathetereinlage ist mit einem erhöhten Komplikationsrisiko assoziiert. Allen Kathetertypen (Arterien-, Zentralvenen-, Schmerz- und Urinkathetern) gemeinsam ist ein erhöhtes Infektionsrisiko aufgrund der Überwindung von anatomisch-physiologischen Barrieren. Daher ist für die Einlage eines Katheters eine klare Indikationsstellung erforderlich. Beispielsweise verbessert eine vaskuläre Kathetereinlage (ein arterieller Katheter zur kontinuierlichen invasiven Blutdruckmessung oder ein zentralvenöser Katheter zur Messung des zentralvenösen Druckes) die Patientenbehandlung nicht per se, und eine Katheterverwendung muss mit den entsprechenden notwendigen, adäquaten Massnahmen einhergehen, um das Patientenoutcome positiv zu beeinflussen. Bei einem Entscheid zur Kathetereinlage müssen aseptische Bedingungen gemäss einem standardisierten Protokoll streng eingehalten werden, und die Liegedauer ist zu begrenzen, um Infektionen möglichst zu vermeiden. Weiter erhöht die Verwendung eines Ultraschallgerätes zur Einlage des Katheters die Erfolgsrate und reduziert die Komplikationsrate.

3. Keine Opioide nach Spitalaustritt bei «opioidnaiven» Patientinnen und Patienten. Falls dennoch notwendig, muss ein klarer Plan zur Dosisreduktion und zum mittelfristigen Absetzen vorhanden sein und mitgegeben werden [6, 7].

Das Schmerzempfinden und das postoperative Nachlassen der Schmerzen ist variabel, weswegen die Verabreichung von Opioiden im postoperativen Schmerzmanagement individuell angepasst werden muss. Opioide sollen im Verlauf der Hospitalisation wenn immer möglich reduziert und wieder abgesetzt werden, um das Risiko von Nebenwirkungen und die Entwicklung einer Sucht einzuschränken. Patientinnen und Patienten, die bei Spitaleintritt «opioidnaiv» sind, sollten wenn immer möglich nicht mit Opioiden entlassen werden. Falls dies nötig sein sollte, muss ein klarer Plan zur Dosisreduktion und zum mittelfristigen Absetzen vorhanden sein und mitgegeben werden.

4. Keine präoperativen kardiologischen und pneumologischen Abklärungen bei asymptomatischen leistungsfähigen Patientinnen und Patienten mit bekannter Herz- und/oder Lungenerkrankung [8, 9].

Asymptomatische Patientinnen und Patienten mit chronischen Herz- oder Lungenerkrankungen, vor allem zu behandelnde Personen mit koronarer Herzkrankheit oder chronisch obstruktiver Lungenerkrankung, profitieren in der Regel nicht von einer weiterführenden kardiologischen oder pneumologischen Abklärung. Dies gilt insbesondere dann, wenn sie sich bei guter funktioneller Kapazität einem «Low-Risk»- oder einem «Intermediate-Risk»-Eingriff unterziehen müssen. Die Abklärungen selbst reduzieren das Risiko für postoperative Komplikationen kaum. Demgegenüber werden Patientinnen und Patienten durch Untersuchungen wie eine Stressechokardiografie oder eine Koronarangiografie einem nicht zu vernachlässigenden Risiko für Komplikationen ausgesetzt. Gleichzeitig wird dadurch die Durchführung der Operation oft unnötig verzögert. Diese Untersuchungen sowie auch die Lungenfunktionsprüfung sollen symptomatischen Patientinnen und Patienten vorbehalten sein, bei denen durch die Abklärung eine Verbesserung der Therapie der chronischen Erkrankung erreicht und erwartet werden kann. Dabei sollen diese Abklärungen losgelöst von einem geplanten Eingriff durchgeführt werden.

5. Verzicht auf eine rein fachspezifisch ausgerichtete Arbeitsweise, die sich nur auf das Durchführen von Anästhesien beschränkt [10–12].

Die Verwendung standardisierter, interdisziplinärer perioperativer Behandlungsprotokolle führt zu einem verbesserten Patientenoutcome nach verschiedenen chirurgischen Eingriffen. Anästhesistinnen und Anästhesisten können durch die Unterstützung der Implementierung und die konsequente Anwendung und Weiterentwicklung solcher Protokolle massgeblich zu einer Reduktion von postoperativen Komplikationen und damit auch zu kürzeren Hospitalisationen beitragen. Beispiele von solchen Behandlungsprotokollen sind ERAS® (Enhanced Recovery after Surgery) oder GRACE® (Groupe de Réhabilitation Améliorée après Chirurgie).

Über die Gesellschaft

Die Schweizer Gesellschaft für Anästhesiologie und Perioperative Medizin (SSAPM) ist die Standesorganisation der Fachärztinnen und Fachärzte für Anästhesiologie. Weitere Informationen finden Sie unter www.ssapm.ch.

Zu smarter medicine

Die gemeinnützige Organisation smarter medicine setzt sich seit dem Jahr 2014 gegen eine Über- beziehungsweise Fehlbehandlung in der Schweizer Medizin ein. Um ihre Ziele zu erreichen, fördert smarter medicine die Diskussion und die Forschung zu unnötigen Behandlungen. Sie stellt Informationsmaterial zur Verfügung und gibt in sogenannten «Top-5-Listen» regelmässig Empfehlungen an das medizinische Fachpersonal sowie an Patientinnen und Patienten ab. Weitere Informationen unter www.smartermedicine.ch
ifai-sekretariat[at]hirslanden.ch
lars.clarfeld[at]sgaim.ch
1 Senn LV, Widmer A, Zanetti G, Kuster S. Aktualisierte Empfehlungen zur perioperativen Antibiotikaprophylaxe in der Schweiz, 2015. Swiss-noso Bulletin. 2015;20:1 –8.
2 Allegranzi B, Bischoff P, de Jonge S, Kubilay NZ, Zayed B, Gomes SM, et al.; WHO Guidelines Development Group. New WHO recommendations on preoperative measures for surgical site infection prevention: an evidence-based global perspective. Lancet Infect Dis. 2016 Dec;16(12):e276–87. http://dx.doi.org/10.1016/ S1473-3099(16)30398-X.
3 Bonsignore M, Nachtigall I. Infektionsprävention in der Anästhesie [Infection Control in Anesthesia]. Anasthesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther. 2021 Jul;56(7-08):474-484.
4 Lewis SR, Price A, Walker KJ, McGrattan K, Smith AF. Ultrasound guidance for upper and lower limb blocks. Cochrane Database Syst Rev 2015; 11: CD006459.
5 Brass P, Hellmich M, Kolodziej L, Schick G, Smith AF. Ultrasound guidance versus anatomical landmarks for internal jugular vein catheterization. Cochrane Database Syst Rev 2015; 1:CD006962.
6 Levy N, Quinlan J, El-Boghdadly K, Fawcett WJ, Agarwal V, Bastable RB, et al. An international multidisciplinary consensus statement on the prevention of opioid-related harm in adult surgical patients. Anaesthesia 2021; 76: 520-536.
7 Macintyre PE, Quinlan J, Levy N, Lobo DN. Current Issues in the Use of Opioids for the Management of Postoperative Pain: A Review. JAMA Surg 2022; 157: 158-166.
8 De Hert S, Staender S, Fritsch G, Hinkelbein J, Afshari A, Bettelli G, et al. Pre-operative evaluation of adults undergoing elective noncardiac surgery: Updated guideline from the European Society of Anaesthesiology. Eur J Anaesthesiol 2018; 35: 407-465.
9 Savery KE, Kleiman AM, Walters SM. Preoperative Assessment and Optimization of Cardiopulmonary Disease in Noncardiac Surgery. Clin Colon Rectal Surg. 2023; 36: 167-174.
10 Wang D, Hu Y, Liu K, Liu Z, Chen X, Cao L, et al. Issues in patients’ experiences of enhanced recovery after surgery (ERAS) : a systematic review of qualitative evidence. BMJ Open 2023; 13: e068910.
11 Cohen R, Gooberman-Hill R. Staff experiences of enhanced recovery after surgery: systematic review of qualitative studies. BMJ Open 2019; 9: e022259.
12 Ljungqvist O, de Boer HD, Balfour A, Fawcett WJ, Lobo DN, Nelson G, et al. Opportunities and Challenges for the Next Phase of Enhanced Recovery After Surgery: A Review. JAMA Surg 2021; 156(8): 775-784.