Besondere gesundheitliche Herausforderungen

Forum
Ausgabe
2024/15
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2024.1430210888
Schweiz Ärzteztg. 2024;105(15):

Publiziert am 10.04.2024

International Romani Day
Jenische, Sinti und Roma erfahren immer wieder Benachteiligung im Gesundheitswesen. Einige grundlegende Informationen zu häufigen Gesundheitsbeschwerden sowie kulturellen Besonderheiten können helfen, den Arztbesuch zu erleichtern – für beide Seiten.
In der Schweiz pflegen zwischen 3000 und 5000 Personen eine fahrende Lebensweise.
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Am 8. April ist der International Romani Day, ein weltweiter Aktionstag, der auf die Diskriminierung der Roma (Einzahl: Rom; weiblich: Romni, plural: Romnia) aufmerksam machen soll. Laut Bundesamt für Kultur leben hierzulande rund 35 000 Jenische, einige hundert Sinti und 80 000 Roma [1]. Zwischen 3000 und 5000 von ihnen führen die fahrende Lebensweise, leben also ohne einen festen Wohnsitz [2]. Wie andere Minderheiten erfahren auch Jenische, Sinti und Roma (JSR) Benachteiligung im Gesundheitswesen [3]. Interaktionen zwischen JSR und medizinischem Personal sind oftmals problematisch für Beteiligte, auch weil Ärzte und Ärztinnen mit den medizinischen Bedürfnissen und kulturellen Besonderheiten der JSR nicht vertraut sind.

Mit 60 Beschwerden wie mit 80

JSR leiden tendenziell früher im Leben an altersbedingten Krankheiten wie Demenz, Gebrechlichkeit und Sturzsyndromen [4]. Laut einer britischen Studie in The Lancet Public Health entspricht der durchschnittliche Gesundheitszustand von 60-jährigen Roma der Verfassung von 80-jährigen Briten [5]. Die Ungleichheit ist bei älteren Romnia generell grösser [6]. So ergibt sich die Empfehlung, bei der Untersuchung von JSR-Patienten und -Patientinnen von einem altersorientierten Ansatz eher abzusehen und einem stärker bedarfsorientierten Ansatz zu folgen.
Studien aus europäischen Ländern dokumentieren höhere Insulin-Werte und höheren Bluthochdruck bei Roma als bei der Mehrheitsbevölkerung [7]. Auch bei jungen Roma wurde eine höhere Prävalenz von Risikofaktoren für das metabolische Syndrom sowie Herz-Kreislauf-Erkrankungen festgestellt [8]. Ausserdem wurden ernährungsbedingte Mangelerscheinungen beobachtet, darunter ein langfristig ungedeckter Bedarf der antioxidativen Vitamine A, C und E [9]. Auch Untergewicht und seine Komorbiditäten sind für Roma dokumentiert [10]. Da entsprechende Schweizer Studien nicht existieren, können für hiesige JSR Abweichungen gelten.
Studien aus den 1990er Jahren suggerieren eine höhere Rate an Infektionskrankheiten als in der Mehrheitsbevölkerung [11]. Dies könnte für hiesige Personen mit der fahrenden Lebensweise nach wie vor zutreffen, da Mobilität unter anderem den Zugang zu empfohlenen Schutzimpfungen erschweren kann [12].

Kulturelle Bedeutung von Gesundheit

JSR-Patienten und -Patientinnen hegen tendenziell tiefes Misstrauen gegenüber medizinischem Personal [13]. Umso essenzieller für ihre medizinische Versorgung ist die Rücksicht auf kulturelle Besonderheiten. In der traditionellen Kultur der Roma wird zwischen rein und unrein unterschieden [14]. Gesundheit gilt weithin als ein unreines Thema [15]. Deshalb könnten JSR-Patienten und -Patientinnen direkte Fragen nach Symptomen als schwierig empfinden, sodass sie zumindest am Anfang des Gesprächs vermieden werden sollten. Junge Ärzte und Ärztinnen sollten bedenken, dass JSR-Patienten und -Patientinnen aufgeschlossener auf den Rat von älteren Personen reagieren können [16].
Wichtig ist, dass die Jenische, Sinti und Roma hierzulande unterschiedliche kulturelle und sprachliche Besonderheiten aufweisen, sodass generalisierende Informationen und Empfehlungen für den Umgang mit JSR-Patienten und -Patientinnen rasch an Grenzen stossen. Mit den üblichen Tugenden – Respekt, Geduld und aufmerksamem Zuhören – kann medizinisches Personal essenzielle Schritte für eine gelungene gesundheitliche Versorgung von JSR-Patienten und -Patientinnen setzen.
Dr. phil. Anna Gielas
Centre for Global Knowledge Studies, Cambridge, Vereinigtes Königreich
1 Bundesamt für Kultur. Sprachen und Gesellschaft Jenische und Sinti als nationale Minderheit. Weiterführende Informationen https://www.bak.admin.ch/bak/de/home/sprachen-und-gesellschaft/jenische-und-sinti-als-nationale-minderheit/weiterfuehrende-informationen.html
2 Gesellschaft für bedrohte Völker. Tag der Jenischen, Sinti und Roma in der Schweiz: Respekt und Anerkennung. Medienmitteilung https://www.gfbv.ch/de/medien/medienmitteilungen/tag-der-jenischen-sinti-und-roma/
3 Organization for Security and Co-operation in Europe - Office for Democratic Institutions and Human Rights. Guidelines for Activists on Access to Health Care & Vaccination for Roma and Sinti. Warschau 2023, 8. https://www.osce.org/files/f/documents/7/e/547922.pdf
4 Friends, Families and Travellers. Briefing: Health inequalities experienced by Gypsy, Roma and Traveller communities. Brighton 2022, 10. https://www.gypsy-traveller.org/wp-content/uploads/2022/11/Briefing_Health-inequalities-experienced-by-Gypsies-and-Travellers-in-England.pdf
5 Ruth Elizabeth Watkinson, Matt Sutton, Alex James Turner. Ethnic inequalities in health-related quality of life among older adults in England: secondary analysis of a national cross-sectional survey. Lancet Glob Health. 2021; 6(3): e145–54.
6 Ruth Elizabeth Watkinson, Matt Sutton, Alex James Turner. Ethnic inequalities in health-related quality of life among older adults in England: secondary analysis of a national cross-sectional survey. Lancet Glob Health. 2021; 6(3): e145–54, e152.
7-10 Cristina Masseria, Philipa Mladovsky, Cristina Hernández-Quevedo. The socio-economic determinants of the health status of Roma in comparison with non-Roma in Bulgaria, Hungary and Romania. Eur J Public Health. 2010; 20(5): 549-54, 549.
11 Directorate-General for Health and Consumers (European Commission). Roma Health Report Health status of the Roma population. Data collection in the Member States of the European Union. Brussels 2014, 45.
https://health.ec.europa.eu/system/files/2016-11/2014_roma_health_report_en_0.pdf
12 Directorate-General for Health and Consumers (European Commission). Roma Health Report Health status of the Roma population. Data collection in the Member States of the European Union. Brussels 2014, 62.
https://health.ec.europa.eu/system/files/2016-11/2014_roma_health_report_en_0.pdf
13 Directorate-General for Health and Consumers (European Commission). Roma Health Report Health status of the Roma population. Data collection in the Member States of the European Union. Brussels 2014, 59.
https://health.ec.europa.eu/system/files/2016-11/2014_roma_health_report_en_0.pdf
14 Marian Chiriac et al. Introduction to Roma Culture: Exploring Cultural Diversity for Family Doctors. JSI Research & Training Institute, Inc., Boston 2007, 13. https://pdf.usaid.gov/pdf_docs/PNADM192.pdf
15 National Health Service England and The Roma Support Group. The Roma Community. Leaflet. London 2016, 1. https://www.england.nhs.uk/wp-content/uploads/2016/07/roma-info-leaflet.pdf
16 National Health Service England and The Roma Support Group. The Roma Community. Leaflet. London 2016, 3. https://www.england.nhs.uk/wp-content/uploads/2016/07/roma-info-leaflet.pdf