Hoffnung ja, Euphorie nein

Hoffnung ja, Euphorie nein

Hintergrund
Ausgabe
2023/44
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.1267371704
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(44):18-21

Publiziert am 01.11.2023

Personalisierte Medizin
Sie gilt häufig gerade dort als Hoffnungsträgerin, wo andere Therapien versagen: die personalisierte Medizin. In der Onkologie ist die Entwicklung entsprechender Behandlungen am weitesten fortgeschritten, in anderen Gebieten steckt sie noch in den Kinderschuhen. Was bedeutet das für die Betroffenen? Wir haben vier Patientinnen und Patienten gefragt.
In unserer Themenserie haben wir über das Potenzial der personalisierten Medizin berichtet, ihre Entstehungsgeschichte unter die Lupe genommen sowie die Arbeit des Swiss Personalized Health Network skizziert. Nun ist es an der Zeit, auf diejenigen zu hören, denen die personalisierte Medizin zugutekommen soll: die Patientinnen und Patienten. Welche Hoffnungen weckt sie in ihnen? Und welche Unsicherheiten?
Cornelia Gabriel und Jasmin Barman-Aksözen sind beide an einer seltenen Krankheit erkrankt. Für Cornelia Gabriel ist klar, dass sie selbst nicht mehr von einer auf sie zugeschnittenen Therapie profitieren wird. Jedoch hofft sie für zukünftige Betroffene auf Fortschritte in der Forschung. Auch Jasmin Barman-Aksözen sieht das Potenzial, fürchtet aber, dass der Zugang zu solchen Therapien für Menschen mit seltenen Krankheiten erschwert sein könnte – weil die Kosten nicht übernommen werden.
Zu den Vorreiterinnen der personalisierten Medizin gehört die Onkologie. Bei Michaël Nourry wurde 2020 Lungenkrebs diagnostiziert. Er erhält eine auf seine Mutation abgestimmte Behandlung. Eine grosse Hilfe, um einen normalen Alltag aufrechtzuerhalten, auch wenn noch keine Heilung in Sicht ist.
Sophie Cabaset wiederum sagt, sie habe ihre eigene personalisierte Therapie entwickelt, nachdem bei ihr Multiple Sklerose festgestellt wurde. Trotz aller Fortschritte sei die Forschung aber noch weit von einer Therapie auf der Genebene entfernt.
Aus den vier Texten wird deutlich: Alle Befragten setzen Hoffnung in die personalisierte Medizin. Und noch etwas anderes wird spürbar. Ihre Motivation, von Patientenseite zu Forschung und Fortschritt beizutragen. Wie genau? Lesen Sie selbst!

«Option für zukünftige Betroffene»

Corneli a Gabriel, Mitglied der Patientengruppe «Wir Mitos» [1]
Ich bin von einer seltenen Krankheit betroffen, einer primären mitochondrialen Myopathie mit multiplen Deletionen in der mitochondrialen DNA. Schmerzen und Belastungsintoleranz traten bereits im Alter von etwa zehn Jahren auf. Eine etablierte Behandlung gibt es nicht, die Therapie ist einzig symptomorientiert. Hoffnung auf eine personalisierte Behandlung habe ich kaum. Das hat verschiedene Gründe:
  • Es handelt sich um eine «junge» Erkrankung, die erste pathogene mtDNA-Mutation wurde 1988 beschrieben.
  • Es hat Jahrzehnte gedauert, bis ich die korrekte Diagnose bekommen habe. Dazu hat es zwei Muskelbiopsien, genetische Abklärungen und Glück gebraucht. Die primäre nukleäre Mutation hat man (noch) nicht gefunden. Das wäre aber eine Bedingung für eine allfällige personalisierte Therapie.
  • Mitochondriopathien umfassen als Entität mehrere hundert Mutationen, im mitochondrialen wie im nukleären Genom. Die Genotyp-Phänotyp-Korrelation ist gering.
  • Vitamine und Substanzen, die als Cofaktoren im mitochondrialen Energiestoffwechsel dienen, werden probatorisch verabreicht (Nahrungsergänzungsmittel), ohne grosse Evidenz. Das heisst, es gilt, eines nach dem anderen auszuprobieren.
  • Es gibt zwar vermehrt Studien zur Therapie von Mitochondriopathien. Eine genügend grosse Anzahl Probandinnen und Probanden zu finden, möglichst mit Mutationen im gleichen Gen, ist aber schwierig. In der Schweiz beispielsweise ist ein Register für seltene Krankheiten erst im Aufbau.
  • Gentherapien – im ureigensten Sinne personalisierte Therapien – sind vom experimentellen Stadium in den Bereich des Machbaren gerückt, aber nur bei einzelnen Erkrankungen. Zudem gibt es immer wieder Rückschläge.
  • Eine Gentherapie bei Mitochondriopathien müsste auf eine bestimmte Mutation zugeschnitten sein und so früh wie möglich angewandt werden, bevor Schäden entstanden sind. Mit meinen 61 Jahren kommt das wohl nicht mehr infrage.
Mein Fazit: Ich hoffe, personalisierte Medizin wird zur Option für zukünftige Betroffene.

«Vertretung der Patientengruppe nötig»

Jasmin Barman-Aksözen, Mitglied im Beirat von ProRaris [2]
Ich bin von Erythropoietischer Protoporphyrie (EPP) betroffen, einem seltenen Gendefekt der Hämsynthese. Dabei lösen schon wenige Minuten an der Sonne oder starken künstlichen Lichtquellen schmerzhafte Verbrennungen der Aderwände aus. Seit 2014 ist mit Afamelanotid die erste Therapie zur Vermeidung dieser sogenannten «phototoxischen Reaktionen» in der EU zugelassen. Betroffene in der Schweiz haben Dank Artikel 71c KVV Zugang zur Therapie. Je nach Schweregrad benötigen einige Betroffene die Behandlung nur in den Sommermonaten, andere jedoch das ganze Jahr über. Insofern ist die Verwendung des Medikaments stark von der persönlichen Situation abhängig und man kann von einer gewissen Personalisierung sprechen – auch wenn es sich immer um dasselbe Medikament handelt. Glücklicherweise unterstützen die meisten Krankenversicherer diese individuellen Behandlungsschemata.
Um mich vor Symptomen zu schützen, gab es für mich früher nur dies: Licht vermeiden mittels Kleidung und Sonnenschirm und auf Aktivitäten im Freien verzichten. Im Alltag lässt sich dies jedoch nur bedingt umsetzen. Dank der Behandlung mit Afamelanotid kann ich ein annähernd normales Leben führen. Anfang Jahr habe ich sogar eine Einladung zu einem Fachvortrag an einer Konferenz in Südafrika angenommen – trotz der intensiven Sonnenstrahlung, die dort herrscht.
Die medizinische Forschung macht enorme Fortschritte. Neue Ansätze wie «Gene-Editing» haben das Potenzial, bei einer Vielzahl von genetischen Erkrankungen, für die es bisher keine Behandlung gibt, sogar individuelle Mutationen zu korrigieren. Meine grösste Sorge ist, dass diese Therapien Betroffene mit seltenen Krankheiten aus Kostengründen nicht erreichen werden. Leider sehen wir hier heute schon Benachteiligungen. Für die gleichberechtigte Teilhabe am medizinischen Fortschritt ist eine Vertretung dieser Patientengruppe in den relevanten Gremien nötig, beispielsweise durch den Dachverband ProRaris, bei dem ich Mitglied im Beirat bin.

«Ein passendes Paar Schuhe»

Michaël Nourry, Mitglied der Patientengruppe ALK & ROS1 [3]
Im Juni 2020 wurde bei mir nach einem linksseitigen Pleuraerguss, einer Computertomografie und der Analyse der Punktionsflüssigkeit ein nicht kleinzelliger Lungenkarzinom im Stadium 4 diagnostiziert. Die chirurgische Entscheidung: eine Biopsie des Primärtumors und Talkumieren des Brustfells. Dann die Analyse der bösartigen Zellen und die Suche nach dem Typ der Zellmutation. All dies hatte ich zuvor mit Dr. Perentes, einem Thoraxchirurgen, besprochen. Ergebnis: ALK-Translokation, diese macht 5% aller Lungenkrebserkrankungen aus. Ein Nichtraucher-Krebs. Die erste Behandlungslinie ist eine auf meine Mutation zugeschnittene Therapie.
Die Behandlung hilft mir, das Fortschreiten der Krankheit aufzuhalten, sie im besten Fall rückgängig zu machen oder sie sogar auf den Bildern verschwinden zu sehen. Vor allem hilft sie mir, ein normales Familienleben sowie ein soziales und berufliches Leben zu führen. Die Nebenwirkungen sind zwar vorhanden, wie etwa Müdigkeit, aber überschaubar. Es gibt keine Auswirkungen auf das Blut, auf die Leber oder andere Bereiche. Ich habe das Glück, die Therapie gut zu vertragen. Bei anderen ist das nicht der Fall.
Die personalisierte Medizin hat ihren festen Platz in der Onkologie. Die Behandlung muss unbedingt an die Situation des Patienten und an den Typ seiner Krebszellen angepasst werden. Bei einer Verbesserung muss die Strategie modifiziert werden: sozusagen eine massgeschneiderte Behandlung.
Wenn Sie morgen Schuhe kaufen gehen und man Ihnen eine falsche Schuhgrösse gibt, wird diese dann passen? Klingt mein Beispiel absurd? Ich würde sagen, nein.
In meiner Situation hat man jeden Tag Zweifel. Der Feind ist die Zeit, denn die Zukunft ist unsicher. Pläne zu schmieden, ist wichtig. Man muss lernen, im Rhythmus der Untersuchungen zu leben und das emotionale Auf und Ab je nach Ergebnis zu bewältigen. Man muss mit den Auswirkungen der Krankheit auf die Angehörigen und sich selbst umgehen und akzeptieren, dass man körperlich und seelisch anfälliger ist als zuvor. Meine Hoffnung: dass ich nie an der Medizin und der Forschung zweifle.

«Meine eigene personalisierte Therapie»

Sophie Cabaset, Teilnehmerin am Schweizer MS-Register [4]
Multiple Sklerose wird oft als «Krankheit mit 1000 Gesichtern» bezeichnet. Da die Betroffenen sehr unterschiedliche Verläufe haben, ist auch die Behandlung schwierig. MS lässt sich bisher nicht heilen, nur verlangsamen.
Ich betrachte mich als glücklich, da ich «nur» unter Sensibilitätsstörungen und Müdigkeit leide. Ich erhielt die Diagnose 2009. Damals verliess ich die Arztpraxis mit ein paar Vorschlägen für immunmodulierende Therapien. Gleichzeitig begann ich eine lange Reise, auf der ich unter anderem Nahrungsergänzungsmittel, Psychotherapie und verschiedene komplementärmedizinische Angebote ausprobierte. Zudem wechselte ich später von immunmodulierenden Therapien zu Immunsuppressiva. Ich habe meine eigene personalisierte Therapie entwickelt. Welche Massnahme tatsächlich am wirksamsten ist, weiss ich nicht. Aber ich bin seit mehr als 20 Jahren stabil und ich weiss, was mir gut tut.
In der Zwischenzeit hat die Wissenschaft Fortschritte gemacht. Neudiagnostizierte Patientinnen und Patienten erhalten ein etwas ganzheitlicheres Angebot als ich damals. Die wissenschaftlichen Beweise, dass Ernährungsanpassung, Nahrungsergänzungsmittel wie Vitamin D, Meditation und Bewegung bei MS empfehlungswert sind, häufen sich.
Als ich das erste Mal vom Schweizer MS-Register hörte, wusste ich sofort, dass ich daran teilnehmen will. Bei diesem von der Schweizerischen Multiple Sklerose Gesellschaft initiierten und finanzierten Projekt kann ich aktiv zur Forschung beitragen. Damit die MS-Forschung sich mit den Themen befasst, die für die Betroffenen wirklich nützlich sind. Ich denke, solche patientenzentrierten Initiativen sind einer der wichtigsten Bausteine in Richtung verbesserten Behandlungen. Eine personalisierte oder Präzisionsmedizin für die Behandlung von MS gibt es meines Wissens bisher noch nicht. Das liegt vor allem daran, dass es keine robusten Biomarker und kein detailliertes Verständnis der Pathogenese gibt. Das ist aber die Voraussetzung dafür, ein Heilmittel zu finden. Meine grosse Hoffnung ist, dass dies bald gelingt.