Einen dritten Arm mit der Atmung steuern

Einen dritten Arm mit der Atmung steuern

Wissen
Ausgabe
2024/15
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2024.1345572197
Schweiz Ärzteztg. 2024;105(15):

Publiziert am 10.04.2024

Robotik
Mithilfe der Zwerchfellbewegungen lässt sich ein zusätzlicher Arm steuern. Das zeigten Neuroingenieure der EPFL in ihrer Studie. Aktuell prüfen die Forschenden, ob man auch mit der Ohrmuskulatur eine künstliche Hand bewegen könnte.
Bionisches Knie, sechster Finger, künstliche Netzhaut. Obwohl augmentierte Körper die Vorstellungswelten von Science-Fiction-Filmen beflügeln, gibt es in diesem Bereich bislang nur wenige technologische Innovationen. Und diese sollen derzeit auch keine übermenschlichen Fähigkeiten verleihen, sondern in erster Linie den Funktionsverlust von Körperteilen ausgleichen. Hier ist beispielsweise im vergangenen Dezember Prof. Silvestro Micera von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) ein technologischer Durchbruch gelungen. Der Inhaber des Bertarelli-Stiftungslehrstuhls für Translational Neuroengineering und sein Team am Institut Neuro-X haben eine Mensch-Maschine-Schnittstelle entwickelt, mit der sich unabhängig von den anderen Gliedmassen ein künstlicher dritter Arm steuern lässt. Ihre Entwicklungen könnten bei der Rehabilitation von Menschen mit motorischen Einschränkungen zur Anwendung kommen.
«Unser Ausgangspunkt ist eine kognitionswissenschaftliche Frage», sagt Solaiman Shokur, Neuroingenieur und Co-Leiter der in Science Robotics veröffentlichten Studie [1]. «Über die Steuerung eines zusätzlichen Arms soll die Lernfähigkeit des Gehirns beim Erwerb neuer motorischer Funktionen erforscht werden. Kann das Gehirn solche Fähigkeiten ohne Abstriche bei gleichzeitig laufenden anderen Prozessen mobilisieren?» Um diese Frage zu beantworten, haben die Forschenden eine Mensch-Maschine-Schnittstelle entwickelt, die zwei von den biologischen Armen unabhängige motorische Steuerungsmodalitäten nutzt: den Blick, der natürlicherweise an räumlich gerichteten Handlungen beteiligt ist, und die willkürlich modulierbare Zwerchfellatmung. Anschliessend führten sie eine Reihe von Tests mit etwa sechzig gesunden Freiwilligen durch.

Das Zwerchfell übernimmt die Steuerung

Zunächst wurde die Schnittstelle in einer Versuchsumgebung validiert. Von der EPFL rekrutierte Freiwillige wurden mit einem Virtual-Reality-Headset ausgestattet. Dieses zeigt ihnen drei Arme: ihre beiden natürlichen und dazwischen einen dritten Arm, der aufgrund seiner sechsfingrigen Hand leicht zu unterscheiden ist. Die Aufgabenstellung an die Versuchspersonen war, die linke und rechte sowie die mittige symmetrische Hand unabhängig voneinander oder koordiniert zu bewegen. Die anzusteuernden Positionen sind durch Zielkreise gekennzeichnet. Real ist die Versuchsperson mit einem Exoskelett ausgestattet und steuert durch Bewegungen ihrer beiden biologischen Hände deren virtuelle Pendants. Für die Bewegungen des dritten Arms setzt die Person ihr Zwerchfell ein. Bei Anspannung des Zwerchfells wird der Arm ausgestreckt, seine Entspannung bewirkt die entgegengesetzte Bewegung. Die Informationsübertragung erfolgt über einen mit Sensoren ausgestatteten Gürtel auf Zwerchfellhöhe, der dessen Bewegungen aufzeichnet.
Damit gelang eine intuitive Steuerung des dritten Arms, da die Versuchsperson die gestellten Aufgaben auch ohne visuelle Rückmeldung schnell und erfolgreich ausführen konnte. Zudem behindere diese Steuerung nicht beim Sprechen oder Betrachten der Umgebung; die kognitiven Fähigkeiten blieben unbeeinträchtigt. Nach diesem ersten Schritt wurden ähnliche Tests mit einem zweiten Gerät durchgeführt, das einen dritten Roboterarm nachahmt. Dieses bestand aus einem zusätzlichen, mit einem beweglichen Holzarm ausgestatteten Brustgeschirr. «Wir wollten beurteilen, ob das Erlernte übertragbar ist», sagt Solaiman Shokur, «das heisst, ob die Versuchsperson die eingeübte Fähigkeit im Gedächtnis behält.» Laut ihm schnitten Versuchspersonen, welche die virtuelle Lernphase durchlaufen hatten, etwas besser ab als Ungeschulte.

Auf zu komplexeren Aufgaben

Die Ergebnisse belegen, dass die an der EPFL entwickelte innovative Schnittstelle die Steuerung eines zusätzlichen Arms ermöglicht. Doch «die hier gestellte Aufgabe, ein Ziel anzusteuern, ist im Moment zu einfach», gibt Robert Riener, Professor für Sensomotorische Systeme an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETHZ), zu bedenken. «Der Mensch kann mit einem Arm und dessen Hand Bewegungen ausführen, an denen fast 20 verschiedene Verbindungsstellen beteiligt sind. Ohne gleich so weit zu gehen, müssen wir doch in weiterführenden Studien komplexere Aufgaben stellen.»
Die tatsächliche Anschaffung eines dritten Arms sei zwar noch nicht in Sicht, doch Solaiman Shokurs Hauptanliegen liegt ohnehin an anderer Stelle: «Wir versuchen, Redundanzen im menschlichen Körper zu finden, die für neue motorische Funktionen genutzt werden könnten. Solche Redundanzen können winkelbezogen sein, etwa bei den Freiheitsgraden des Handgelenks, kinematisch, wie bei der Zwerchfellbewegung, oder muskulär, etwa durch rudimentäre Muskeln.»

Steuerung mit dem Ohr

Um Letzteres zu illustrieren, berichtet der Wissenschaftler von einem anderen Experiment, in dem es darum ging, mithilfe der Ohrmuskulatur bestimmte Aufgaben auszuführen. «Anders als bei Katzen und Hunden haben diese rudimentären Muskeln bei uns keine Funktion mehr. Aber sie existieren noch, ebenso wie die dazugehörigen neuronalen Verbindungen», erklärt er. Im Labor sei es entsprechend geschulten Freiwilligen daher auch gelungen, die Bewegung eines Mauszeigers am Computer durch feine Ohrbewegungen zu steuern. Diese Fähigkeit werde derzeit in Zusammenarbeit mit italienischen Partnern in einer klinischen Studie mit Tetraplegikern untersucht. «Die Betroffenen können ihre Arme zwar bewegen, sind jedoch nicht in der Lage, ihre Hände zu öffnen oder zu schliessen. Wir bringen ihnen bei, über ihre Ohrmuskeln virtuell eine Orthese zu steuern und damit die fehlende Funktion zu kompensieren», so der Wissenschaftler.
Robert Riener entwirft an der ETH Zürich motorisierte Orthesen für Knie oder Beine, welche die motorischen Funktionen der Träger und Trägerinnen verstärken. «Wir stehen vor ähnlichen Problemen wie das Lausanner Team, nämlich wie man die Bewegung dieser Orthesen steuern kann», sagt der Zürcher Professor. «Und geeignete sensible oder motorische Kanäle dafür zu finden, ist eine Herausforderung. Vor diesem Hintergrund sind die Ergebnisse der Studie wirklich ermutigend.»
1 Giulia Dominijanni et al., Human motor augmentation with an extra robotic arm without functional interference. Sci. Robot.8, eadh1438(2023)