Ist das die neue Manager-Pille?
Neurowissenschaften
Forschende der ETH Zürich haben ein neues Medikament entwickelt, das die Stressreaktion im Körper blockiert. Die Debatte um das richtige Einsatzgebiet der Anti-Stress-Pille könnte noch so manchen Puls in die Höhe treiben.
Gestresst ist heute jeder: Kaum ein Patient beantwortet die Frage nach dem aktuellen Grad der Belastung mit der Antwort «Mir geht es gut, ich bin total entspannt». Kein Wunder, dass ein neuer, von der ETH Zürich entwickelter Anti-Stress-Wirkstoff gerade überall Schlagzeilen macht [1, 2]. Ein Forscherteam um die Neurowissenschaftlerin Prof. Dr. Katharina Gapp hat in Zusammenarbeit mit drei anderen Forschungsgruppen einen Wirkstoff entwickelt, der direkt in die Stressregulation des Körpers eingreift. Die Studie dazu wurde im Fachmagazin «Nature Communications» publiziert [3].
KH-103, wie das neue Molekül getauft wurde, ist eines der einzigen bekannten Moleküle, das fast ausschliesslich in das Regulationssystem der Stresshormongruppe der Glucocorticoide eingreift. Laut dem Forscherteam der ETH wirkt es viel selektiver als Mifepriston, welches das einzige zugelassene Medikament ist, das ähnlich effektiv den Kreislauf der Glucocorticoide inhibieren kann. Das liegt daran, dass KH-103 das Entstehen einer Stressreaktion gar nicht erst zulässt.
Der neue Wirkstoff eliminiert nämlich die Rezeptoren von Glucocorticoiden, und sorgt so dafür, dass die natürliche Stressreaktion des Körpers aufgehalten wird, noch bevor die Wirkung der Stresshormone eintritt. Möglich ist das, weil KH-103 die Glucocorticoid-Rezeptoren mit einem körpereigenen Markierungsprotein verbindet, das für den Abbau der markierten Substanz sorgt. Die Rezeptoren werden also ausgeknockt. Biochemiker sprechen dabei von der PROTAC-Methode, wobei das Akronym für Proteolysis Targeting Chimeras steht, also für Chimären-Proteine, welche für eine Lyse ihrer Zielproteine sorgen.

Lifestyle-Veränderungen erste Wahl

Der grosse Vorteil von PROTAC-Molekülen ist, dass sie auf beliebige Zielproteine angepasst werden können. Sie gelten als vielversprechende Zukunftstechnologie, unter anderem auch in der Bekämpfung von Krebs und neurogenerativen Erkrankungen, bei denen das Ziel ist, fehlgefaltete Proteine aufzulösen und so eine Heilung der Patienten herbeizurufen [4]. Als mögliche Gefahr gelten jedoch Off-Target-Effekte von PROTAC-Molekülen, wenn sie fälschlicherweise «gesunde» Körperproteine markieren und für deren Abbau sorgen [5].
Zumindest in der Studie der ETH konnten keine dieser Nebenwirkungen gefunden werden. «Off-target-Effekte von KH-103 waren in unseren Proteomic-Experimenten komplett abwesend, das heisst keine anderen Proteine wurden degradiert», erklärt Katharina Gapp, Letztautorin der ETH-Studie. Die Herausforderung bei der Weiterentwicklung des Medikaments sei eine andere: «Schwierig ist es mit der Bioverfügbarkeit von KH-103. Noch ist unklar, ob der Wirkstoff im Körper gut verteilt und nicht schnell abgebaut wird.» Es könnte also sein, dass die Entwickler vor dem Einsatz am Patienten noch kleine molekulare Veränderungen vornehmen müssen.
In den Medien wurde KH-103 zum Teil trotzdem schon jetzt als Anti-Stress-Pille angepriesen, die zum Beispiel der gestressten Jugend helfen könnte. Gapp sagt dazu: «Lifestyle-Veränderungen sollten gegen Stress generell immer die erste Wahl sein. Ich finde es aber nicht falsch, mit Medikamenten nachzuhelfen, wenn man ein pathologisches Stress-Stadium erreicht hat.» Die Wissenschaftlerin betont bei der Antwort aber, dass sie keine Ärztin sei und dass dies nur ihre persönliche Meinung darstelle. Die primäre Zielgruppe für KH-103 sind laut Gapp Patienten mit Cushing-Syndrom und Leute mit Depressionen, welche gleichzeitig auch Psychosen haben.

Der Einsatzbereich ist eingeschränkt

Gleich sieht das Prof. Dr. Dominique de Quervain, Direktor der Abteilung Kognitive Neurowissenschaften an der Universität Basel, der unter anderem Gründer und Co-Präsident des Vereins stressnetwork.ch ist. Er hält KH-103 und die Protac-Methode für hochinteressante Ansätze, glaubt aber, dass der Einsatzbereich eingeschränkter ist, als manche meinen. «Erhöhte Glucocorticoidspiegel sind Folge des Stresses und nicht deren Ursache», erklärt de Quervain. Demnach würde sich zumindest das Stressgefühl durch eine Blockade der Glucocorticoidrezeptoren nicht eliminieren lassen.
Auch seien die Wirkungen von KH-103 auf den ganzen Körper nur schwierig abzuschätzen. «Glucocorticoide sind an einer Vielzahl von Prozessen im Körper beteiligt, und man kann aus heutiger Sicht kaum voraussagen, was für Folgen eine isolierte Blockierung der Stressreaktion durch KH-103 im Körper hat», so Dominique de Quervain.
Der Einsatz bei Krankheiten, bei denen körperliche Symptome auf zu viel Glucocorticoide im Blut zurückzuführen sind, könnte aber sinnvoll sein. Das umfasst laut Prof. de Quervain Krankheiten mit Hypercortisolismus wie Morbus Cushing, und manche Untergruppen von psychischen Störungen, bei denen das Mehr an Glucocorticoiden zusätzlich mit KH-103 behandelt werden könnte.
Noch ist das aber Zukunftsmusik. Die Entwicklung von KH-103 steht trotz der grossen medialen Aufmerksamkeit noch am Anfang. Das räumt auch die federführende Forscherin Katharina Gapp von der ETH Zürich ein: «Es ist im Moment unmöglich, zum zeitlichen Rahmen eine gute Abschätzung abzugeben, denn die Entwicklung könnte noch Jahre dauern. Und es könnte dabei auch etwas Unerwartetes passieren, dass der Wirkstoff nie den Weg zum Markt findet.»
Die beteiligten Forscherteams sind allerdings zuversichtlich. Und stellen klar, dass es ihnen mehr um die Forschung als um Finanzielles geht. So haben sie – anders als andere Forscherteams – den Wirkstoff bewusst nicht patentieren lassen. «Das war uns Autoren wichtig», sagt Katharina Gapp. Denn so sei sichergestellt, dass KH-103 allen zur Weiterentwicklung zugänglich ist.

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